Wie lange muß man leben, um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen?

Wie lange muß man wach bleiben, um der Wahrheit ins Gesicht sehen zu können? Manchmal mehrere Generationen.

Marcel Reich-Ranicki hält ihn für nur talentiert, wie er über sein Buch „Information“ im literarischen Quartett mal geurteilt hat. Der britische Autor Martin Amis ist am 25. August 60 Jahre alt geworden, und er sitzt immer noch literarisch zwischen den Stühlen. Der eine Stuhl heißt „Ernsthaftigkeit und Tiefe“, der andere „Slapstick und Popart“.

Auf Fotografien guckt er immer ein bißchen verkniffen. Vielleicht weil er der Sohn des erfolgreichen Schriftstellers Kingsley Amis ist. Amis‘ Bücher lesen sich manchmal wie die blanke Auflehnung. Sie schwanken zwischen Pop-Kultur und hoher Kultur, sie sind innovativ und wagemutig, seltener traditionell erzählt. Amis nimmt seine Trivialitäten nie ernst – er transzendiert sie und verfolgt so andere Ziele.

Amis hat etwas zu sagen und hat als Erzähler eine Menge zu bieten. Er langweilt nicht, weil er nie die Erwartungen erfüllt.

In „Pfeil der Zeit“ schildert er die Lebensgeschichte eines Nazis – nur nicht vom Anfang bis zum Ende sondern in zeitlich verkehrter Reihenfolge. Selten hat ein Buch das Verrinnen der Zeit so greifbar beschrieben. Ein erzählerisch ideenreiches, ernsthaftes, literarisch wichtiges Buch.

Im Paranoia-Roman „Gierig“ schildert er in Stakkato-Action-Manier und mit comichafter Charakterüberzeichnung den Abstieg eines Filmproduzenten. Das Buch ließt sich wie ein Abgesang auf Erfolg, Geld (Orginaltitel „Money“) und die oberen 10.000 Wichtigtuer. Selten so gelacht.

In Büchlein „Night Train“ macht er aus einem Standard-Krimiplot ein überraschendes Stück Literatur, das dem Happy End eine Zunge herausstreckt, wie man das selten erlebt hat. Ein zynisches Büchlein über die Sinnhaftigkeit des Lebens, das virtuos mit Genre-Klischees spielt.

All diese Bücher sind uneingeschränkt zu empfehlen. Martin Amis hat sich als Erzähler teils mit provokant-lapidarem Stil und überraschenden Themen der Kategorisierung entzogen. Er hat in der Medienwelt für Skandale gesorgt, ist in der Klatschpresse herum gereicht worden, aber ein großer, vor allem ein moderner Autor.

Die schriftstellerische Bandbreite zeigt sich auch an den letzten Werken: 2004 ist in Deutschland mit „Yellow Dog“ ein Roman über Pornografie erschienen, ein Jahr später „Die Hauptsachen„, das (auto-)biografisch die Tod des Vaters verarbeitet. Amis hat in „Koba, der Schreckliche“ jüngst dokumentarisch über die Stalinzeit gearbeitet. Dies alles aber nicht so, wie man das gewohnt ist.

Der Bad Boy der britischen Literaturszene ist 60 geworden. Das Lachen hat er nicht verlernt. Herzlichen Glückwunsch.

Hier werden Ian Buruma und Martin Amis vom New Yorker interviewt. Es geht um Dämonen und Monster, um Monströsitäten in Politik und Literatur. Sehr interessant. Teil 1 des Gesprächs ist hier bzw. auf unserer Homepage zu finden.

Alle Fotos und Bilder, die hier exklusiv veröffentlicht werden, können als Poster, auf T-Shirts, oder als Ausdrucke (auch in Großformaten) über uns bezogen werden. Wer Interesse hat, schreibt uns einen Kommentar, später veröffentlichen wir dazu eine E-Mail-Bestelladresse.