Lone Wolf Manga

So wie sich jüngst das Jahr 2009 seinem Ende zugeneigt hatte, liefen zwei Buchreihen epischen Umfangs aus: Die Manga-Comicserie „Lone Wolf & Cub“ (im Original „Kozure Okami“) der japanischen Comicschöpfer Kazuo Koike als Texter und Geseki Kojima als Zeichner wurde mit dem Band 28 bei ca. je 300 Seiten Umfang vollständig publiziert. Und die Reihe mit Kriminalromanen um „Kommissar Maigret“ vom Belgier Georges Simenon wurde in Deutschland erstmalig in chronologischer Reihenfolge und in aktualisierten Übersetzungen veröffentlicht. Mit Band 75, der im Oktober erschienen war, ist die Publikation der Romane beendet.

Europa und Asien treffen sich zwischen ein paar Buchdeckeln

Beide Werk-Reihen sind Klassiker ihres Genres. Der gewaltfreie „Kommissar Maigret“ gilt als erfolgreichster Kriminalist der Literaturgeschichte, Lone Wolf and Cup“ als wichtigster Vertreter der Action-Mangas, zugleich aber auch als erzählerisches Meisterwerk in Text und Bild. Wobei die Schöpfer dieser Comicserie gerade in der ersten Hälfte des Gesamtgeschichte tief in die Trickkiste von Sex und Gewalt greifen. So unterschiedlich die Genres – hier Comic, dort Kurzroman – so interessant sind die Parallelen zwischen den beiden Werkzyklen und ihren Gemeinsamkeiten.

Der große Handlungsfaden und die kleinen Intermezzi

„Lone Wolf & Cub“ verfolgt vom ersten bis zum letzten Band eine langgestreckte Rahmenhandlung, in deren erzählerischem Dienst die einzelnen Episoden stehen. Itto Ogami, der Scharfrichter des Shogun, des japanischen Herrschers, fällt einer Intrige, bei der es um seinen politisch wichtigen Posten geht, zum Opfer. Durch die Ermordunmg seiner Frau, die ihm in die Schuhe geschoben wird, wird er zum umherwandernden Auftragsmörder und alleinerziehenden Vater. Die Gesamtgeschichte ist wie ein Roadmovie zu Fuß angelegt, in dem der Anti-Held auf dem Weg zur Regierungshauptstadt viele Morde begeht und viele Abenteuer erlebt. Sein kleiner Sohn spielt dabei eine entscheidende Rolle als zweite Hauptperson.

Geschichten in der Geschichte

Auf dem Weg nach Edo räumt der Vogelfreie praktisch in fast jeder Geschichte einen Teil jener Familie und ihrer gedungenen Mörder aus dem Weg, die ihm so übel mitgespielt hatten. Der erzählerische Verdienst auf dieser Ebene ist es, dass der Autor nie den großen Handlungsrahmen vernachlässigt. Dem Leser wird von Band zu Band klarer, dass jede einzelne Episode zwar in sich geschlossen ist aber insgesamt als Puzzlestein den Weg der Rache als Weg nach Edo zeigt, wo Itto Ogami das Oberhaupt des verfeindeten Yagyu-Clans töten will. Ogami hat dabei detaillierte Pläne, die er Stück für Stück realisiert und so auch dem gespannten Leser offenbart.
Es schwingen zwei parallele Spannungsbögen: Der große, der alle Einzelepisoden miteinander verbindet und der kleine der jeweilgen Episode. Ein so klarer und so stringent durchgehaltener Handlungsrahmen – zumal bei solch einem umfangreichen Werk – hat in der Welt der Comics Seltenheitswert.

Maigrets alter Kohleofen wärmt die Seele der Leser

Georges Simenon hat in sich geschlossene Romane verfasst, bei denen ein übergeordneter Handlungsrahmen kaum vorhanden ist. Verbindend sind das immer gleiche Personal, neben Maigret in erster Linie seine Mitarbeiter und seine Frau, außerdem die detaillierte Verortung der Geschehnisse zum Beispiel über Straßennamen oder Landschaftsbeschreibungen. Hier und da erhält selbst die Wetterlage als atmosphärisches Element eine gewisse Wichtigkeit.
All dies bildet den Bezugsrahmen für einen eigenwilligen Kommissar, der öfter Morde in der Oberschicht aufklären muss, sich aber nicht von Einflußnahme „von oben“ oder Standesdünkel beeinflußen läßt. Während Edgar Allen Poe, der Erfinder der modernen Detektivgeschichte, oder Sir Arthur Conan Doyle mit seinem „Sherlock Holmes“ den ermittelnden Protagonisten als Übermenschen stilisierten, ist Maigret dessen Antipode: Ein normaler Mensch, der durch viel Emphathie zunächst die Verbindungen all der Menschen untereinander erforscht, die für den Fall relevant sind, um sich in diesem Gestrüpp menschlicher Verwicklungen ein Bild davon zu machen, was die Motive für den Mord hätten sein können und wer ihn schließlich als fast unausweichliche Folge eines verfehlten Lebens oder Lebensumstandes verübt hat.

Ritualisierungen für Stammleser

So wie Simenon das Verfassen seiner Romane ritualisiert vollführt hatte, so spielen Rituale und immer gleiche Abläufe in den Maigretromanen ein große Rolle. Sie führen dazu, dass der Leser sich in der von Simenon erschaffenen fiktiven Wirklichkeit zuhause fühlen kann. Dieses Zuhausegefühl, das der Autor, der in seinem Leben dutzende Male umgezogen ist und auf der ganzen Welt fast wie ein Nomade unterwegs war, wohl so nie gehabt hatte, schwingt den Leser auf die bedächtige und kleinteilige Aufklärung des Falles ein. Sie läßt ihn innehalten und die Aktivitäten des Kommissars gespannt beobachten. Rituale sind zum Beispiel die Befeuerung des Kohleofens im Kommissariat. Dazu gehören auch Maigrets Pfeifen, die er sich gemächlich stopft und die er raucht, um sich auf den Fall zu besinnen und alles noch einmal in Ruhe zu durchdenken. Auch das permanente Konsumieren von Alkohol oder das bürgerliche Miteinander des Ehepaars Maigret taucht immer wieder vertraut auf. Ähnlich liebevoll, wie in Lone Wolf & Cub“ mit jeder Folge die Gesamtrahmenhandlung Stück für Stück vervollständigt wird, zeichnet Simenon in jedem Maigret-Krimi einen im Grunde langweiligen, wertkonservativen aber von seiner Umwelt oft auch unterschätzten Protagonisten und sein übersichtliches Umfeld.

Elemente von Anspruch und Trivialität

Beide Werke sind Ausdrucksformen eines Crossovers von Unterhaltung und Anspruch. So entspann sich beispielsweise zwischen Literaturnobelpreisträger André Gide und Georges Simenon seinerzeit ein Briefwechsel, in dem Gide den Fließbandschreiber Simenon dazu animieren wollte, seine Werke nicht einfach immer nur in ein paar Wochen herunterzureißen sondern sie sorgfältiger auszuarbeiten. Gide sah Simenon manches Mal, wenn der mal wieder einen neuen Roman veröffentlicht hatte, an der Schwelle zur Hoch-Kultur, aber eben: nur kurz davor. Immerhin werden inzwischen ein paar Werke Simenons gebührlich gewürdigt. Marcel Reich-Ranicki und Matthias Wegener nahmen in ihre Buch-Reihe „Jahrhundert-Edition: Hundert Meisterwerke der modernen Weltliteratur“, die in den 90er Jahren in einem großen deutschen Buchclub erschienen war und bereits Referenzcharakter für einen Literaturkanon hatte, noch ehe die Diskussion über die literarische Kanonisierung in Deutschland so richtig begonnen hatte, Sominons „Die Glocken von Bicétre“ auf.
Im Falle von „Lone Wolf & Cub“ sind viele Comicrezensenten im In- und Ausland nicht müde geworden zu betonen, wie niveauvoll diese Serie ist. Während Simenon auf billige Effekte verzichtet, ist der Manga wesentlich ambivalenter zu sehen. Allerdings mag das Nebeneinander von Anspruch und Trivialem gerade den Reiz dieser Serie ausmachen, die ernsthaft japanische Traditionen und deren Historie beleuchtet.

Beschränkung auf das Wesentliche: Der Werks-Purismus

Simenon hat als Schreiber von Trivialliteratur angefangen, allein in dieser Phase soll er viele hundert Romane und Erzählungen veröffentlicht haben. Danach kamen 75 Maigret- und 120 andere Romane, insgesamt also an die 200 reguläre Romane – außerdem Kurzgeschichten, ein paar autobiografische Werke und in der letzten Lebensphase ausführliche und äußerst umfangreiche Memoirenbände, die der betagte Autor nur noch auf Band diktierte und abschreiben ließ.
Simenon gilt als einer der produktivsten Autoren. Seine Romane hat er getreu eines selbst festgelegten Ablaufs jeweils in kürzester Zeit verfasst. Für eine Zeitspanne von mehreren Wochen hat er sich jeweils in seinem Schreibzimmer regelrecht eingeschlossen, sich von der Außenwelt abgekapselt und nach und nach Handlung und Figuren entwickelt. Seine Konzentrationsleistung in diesen Phasen kommt einer Hyperfokussierung gleich. So hat er sich extrem in seine Charaktere hineinversetzt, um den Fortgang der Handlung aus der Story heraus herzuleiten. Die Romane konnte er so in einer Art konzertierter Aktion schnell fertigstellen – auch, weil er alles deskriptive Beiwerk wegließ. Das ist der Grund dafür, dass ein Roman, der bereits in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen war, heute noch zu lesen ist und nicht unmodern wirkt, weil es keine Autonamen, keine Modelabels und generell kaum etwas gibt, das eine zeitliche Zuordnung erlaubt. Man könnte diese Art zu schreiben heutzutage vielleicht „Naked Novel“ oder „Unplugged Novel“ nennen.

Die Vereinfachung des Komplexen

Viele seiner Romane wirken wie gerade noch hinreichend ausgearbeitete Entwürfe, die die meisten anderen Autoren weiter ausgeführt hätten – die hohe Schule der Trivialliteratur und der vorangegangenen journalistischen Tätigkeit lassen grüßen. Hier hatte Simenon Ökonomie und Effizienz im Umgang mit seinen Stoffen erlernt. Vielleicht könnte man den Autor formal für eine Art Bauhaus-Autor halten, einen also, der alles Überflüssige weglässt und sich auf die Menschen und ihre Verwicklungen konzentriert. Einer, dem das Konzept und die Grundkonstellation der Figuren sehr wichtig ist, weniger die Ausführung. Immerhin ist der Handlungsfaden fast jeder Geschichte bestimmt durch ein Psychogramm bzw. eine Sozialstudie, die Simenon als Menschenkenner ausweisen.

Fast eine filmische Umsetzung: Geschichten fürs Kopfkino

Die Schwarz-weiß-Zeichnungen von „Lone Wolf & Cub“ sind beispielsweise bezüglich ihrer Hintergründe nicht sehr ausgearbeitet und wirken manches Mal sogar leicht dilettantisch. Die Comicrezeption feiert „Lone Wolf & Cub“ aber nicht nur als erzählerisches Meisterwerk sondern auch als grafisches und läßt dabei vollständig außer Acht, dass die reinen Stichzeichnungen handwerklich nicht ausgereift sind, wohl aber stets expressiv, und überdramatisiert, fast schon wie im Stummfilm, der mit Grimassen der Sprachlosigkeit Herr werden wollte – sie verfehlen dadurch nicht ihre emotionale Wirkung.
Bei den Zeichnungen wird ähnlich wie bei Simenons Verbalisierungen die Kunst des Weglassens genutzt. Auch beim Manga können die mitunter langgestreckten Handlungsfäden nur entwickelt werden, weil die zeichnerische Ausführung oftmals aufs Nötige reduziert ist. Die Ausnahme bildet das jeweilige Intro der Geschichten, das aquarelliert ist. Die eigentliche Stärke der zeichnerischen Arbeit liegt im filmischen Bildschnitt, der schlafwandlerisch sicher mal langgestreckt episch, mal kurzatmig rhythmisch die Geschichte vorantreibt, wie man es in dieser Konstellation kaum irgendwo anders erlebt. So ausgefeilt sind diese Erzähltechnik, der Wechsel zwischen schnell geschnittenen Action-Sequenzen und ausführlichen Dialogen, in denen der Leser viele Seiten lang nur Konfrontations-Dialoge vorfindet, dass sie fast 1:1 als Storyboard für erfolgreiche Kino- und eine Fernsehfilmreihen getaugt haben, die sich diese Erzählart zu Eigen gemacht haben.

Von der Schwäche zur Stärke: Rasanz als Tugend

Es gibt nur wenige andere Comicschaffende, die derart packend erzählen können. Einige Beispiele: Einer berühmtesten amerikanische Comicschaffenden, Frank Miller, hat sich mit seinen frühen Arbeiten auf „Lone Wolf & Cub“ bezogen und diese als Referenz und Lehrbeispiel angegeben, speziell seine „Ronin“-Miniserie nimmt selbst bis hin zum Zeichenstil und der Panelaufteilung einen direkten Bezug darauf. Schon in seinen „Daredevil“Geschichten, mit denen er bekannt geworden war, spielten asiatische Kämpfer eine große Rolle. Miller hat die Erzählweise von „Lone Wolf & Cub“ sehr direkt adaptiert: In einer „Daredevil“-Geschichte, die mit Traumsequenzen durchsetzt ist, geht es um einen asiatischen Lehrer, der seinem amerikanischen Schüler die Kunst der Konzentration beibringt. Der blinde Schüler soll einen Pfeil auf eine Zielscheibe abschießen und ins Schwarze treffen. Dieser Topos, blind das Ziel zu treffen bzw. einen Kampf zu gewinnen, taucht ein paar Mal ebenfalls in den „Lone Wolf & Cub“-Geschichten auf. Genauso wie „Dardevils“ alter ego dies lernen durfte, hat der Amerikaner Miller viel von seinen japanischen Kollegen gelernt aber in der Zwischenzeit und viele Werke später wieder verlernt. Miller hat bei den meisten seiner Projekte die erzählerische Fesslung der Leser durch gut getaktete Geschichten inzwischen offenbar verlernt. Übrigens hatte Miller quasi als Ehrerbietung einige der Cover der Reihe „Lone Wolf & Cub“ für den amerikanischen Markt gezeichnet und hat damit ein bißchen zum Erfolg der Reihe außerhalb Japans beigetragen.
Auch Will Eisners „Spirit“ ist filmisch erzählt. Der „Spirit“ gilt diesbezüglich manchem als beste Comicserie überhaupt, hat er doch Perspektiven und Kameraeinstellungen genutzt, die im Realfilm aus technischen Gründen so nicht umzusetzen gewesen wären. Ein weiteres Beispiel ist der europäische Zeichner Herrmann Huppen, der sich in einzelnen Sequenzen seiner Comicabenteuer des öfteren explizit der filmischen Bildsprache bedient. Doch keiner kann „Lone Wolf & Cub“ dramaturgisch das Wasser reichen. Wobei der Zeichner Goseki Kojima dem Umstand Rechnung trägt, dass er offenbar kaum Zeit hat, die Panels richtig auszuarbeiten. Er macht vor, wie man aus einer Schwäche – dem Zeitmangel – eine Stärke macht, indem man einfache Darstellungsweisen nutzt, die vom Leser schnell wahrnehmbar sind und und sogar eine vereinfachende Hilfsstellung dazu geben, das umfangreiche Werk durchzulesen.

Die Unterschiede: Vereint in der Divergenz

Dabei liegt vordergründig betrachtet kaum etwas weiter auseinander als „Lone Wolf & Cub“ und „Komissar Maigret“: Die eine handelnde Figur ist ein Franzose, sanftmütig und leicht behäbig, übergewichtig, ein stiller Alkoholiker, der auf die Welt seines Kommissariats fixiert ist. Ein Mann der meist völlig gewaltlos als meditativ-kontemplativer Denker den Fall löst. Der andere, ein Japaner mit seinem kleinen Sohn auf ruheloser Wanderschaft, ist ein brutaler Kämpfer, ein prinzipientreuer Übermensch ohne Zuhause. Die religiös basierte asketische Ritualisierung spielt in „Lone Wolf & Cub“ eine große Rolle. Ogami ist in seiner unnachgiebigen Strenge in den japanischen Traditionen tief verwurzelt.
In diesem Punkt des Alltagsritus treffen sich die beiden Geschichten dann auch wieder. In beiden Werkzyklen spielen die Regeln des sozialen Miteinanders eine entscheidende Rolle. In „Lone Wolf & Cub“ nimmt der Ehrenkodex des Samurai als vom Leser zu entdeckendes Wertesystem viel Raum ein, von ihm leitet sich oftmals die Verzweigung der Handlung ab. Bei „Kommissar Maigret“ wird dem Leser eine Welt gezeigt, die nach angestammten Regeln funktioniert: Ein bewährtes Personal, das sich nur weiträumig in die Handlung eingefügt ändert, der Ehren-Kodex der Verbrecher, die Vorgehensweise und die Denkweisen des Kommissars. Die formale Strenge der japanischen Kultur trfft auf die konservative Grundhaltung eines französischen Kommissars, der seine unverrückbaren Grundsätze hat und ansonsten bekümmert ist über die Veränderungen, die die Zeit mit sich bringt: Unerfahrene Untersuchungsrichter oder ein neuer Ofen, der aber irgendwie nicht so schön heizt wie der alte.

Trivialität und Elaboriertheit: Leben mit dem Widerspruch

Beide Werke sind Vertreter von unterhaltender Kultur, mit einer trivialen Grundierung, die vor allem auf den Comic zutrifft. „Lone Wolf & Cub“ ist ansich ein Vertreter einer der normiertesten und oft plattesten Comicgattungen, die es gibt: der Mangas. „Kommissar Maigret“ ist ein Kriminalroman mit simplem Aufbau, am Anfang gibt es immer eine Leiche, am Ende folgt der Showdown nach einem ähnlichen Schema: Maigret holt alle Verdächtigen zusammen und ermittelt in einer dialogischen Befragungssituation meist im Kommissariat den Schuldigen und Mörder. Beide Werke sind jedoch mit Intelligenz und Finesse geschaffen. Es ist deutlich zu spüren, dass die Autoren neben dem Umstand, dass sie profunde Erzähler sind, die zu fesseln wissen, mehr wollen als simple Unterhaltung und die Bedienung der immergleichen Klischees. Zudem merkt man, dass sie ihren Stoff beherrschen.
Das hat im Falle von Maigret mitunter zu sehr interessanten Ansätzen geführt. Zum Beispiel zu der Geschichte von dem Mann, der offenbar mit einer weit vom Leichnahm entfernten Waffe ermordet worden war, dessen Ableben sich aber als äußerst geschickter Selbstmord herausstellte, der einiges verschleiern sollte. Der ganze Roman handelt davon, wie Maigret herausfindet, dass es ein Selbstmord war, obwohl es gar nicht danach aussah und welche Geheimnisse der Tote gehütet hatte, die schließlich zu seinem Suizid geführt haben.
Im Falle des Manga hat im Verlauf der Langerzähung eine interessante Wandlung stattgefunden: Ging es in der ersten Hälfte des Zyklus schwerpunktmäßig um „Sex & Crime“, um Massenmorde, aberwitzige Schlachten, die offenbar ganze Landstriche durch die Hand des Anti-Helden entvölkerten, um explizite Vergewaltigungs- und Nötigungsszenen, entwickelt sich der zweite Teil mehr in Richtung eines dialogorientierten Dramas, das immer mehr ohne diese billigen Effekte auskommt. Die Kämpfe werden seltener, die Dialoge mehr betont, die Psychologie der handelnden Personen immer wichtiger.

Meditation und innere Einkehr: In der Ruhe liegt die Kraft

In beiden Werken ist auch das Element der inneren Einkehr, der meditativen Auseinandersetzung zentral: Maigret geht über lange Strecken eines Romans in sich. Er läßt das Geschehen auf sich wirken, er denkt nicht nur nach, sondern hortet Eindrücke fast wie ein Briefmarkensammler, die er zu einem schlüssigen inneren Bild verdichten will. Er erinnert dabei sehr an einen Künstler, der stundenlang dasitzen und in stiller Einkehr ruhen kann, um daraufhin ein Werk zu schaffen. Maigrets Werk ist die Lösung des Falles. Bei „Lone Wolf & Cub“ ist der Protagonist nicht nur ein ausgewiesen brutaler Kämpfer, seine Kampfhandlungen sind nicht beliebig sondern folgen einer Lehre. Jede Form der Gewalt innerhalb einer bestimmten Kampfschule zieht unweigerlich eine bestimmte Art der eigenen Kampftechnik oder deren kreative Brechung nach sich. Es kommt vor, dass die Gegner sich lange, z.B. stundenlang, reglos gegenüberstehen und darüber meditieren, wie der Kampf verlaufen wird. Itto Ogami meditiert darüber hinaus auch ganz klassisch, wenn er in seltenen Fällen zur Ruhe kommt.

Stimmungen und funktionelle Einzelheiten: Intros und Surrounding

Das schon erwähnte jeweilge aquarellierte Intro in „Lone Wolf & Cub“, das aber wie der gesamte Comic schwarzweiß wiedergegeben wird, stellt auf vielen Seiten die Landschaft dar und zeigt historische Bezüge. Es werden dort Handwerkstraditionen, Berufsbilder, Riten und politische Verhältnisse gezeigt. Dieser Teil ist sowohl hart-realistisch aber auch lyrisch ausgearbeitet. Bei Maigret erfolgt sprachlich etwas Ähnliches: Meist, werden im knappen Intro das Wetter und die Landschaft beschrieben, eine Atmosphäre etabliert, die die Geschichte beeinflußen wird. Dieser Wechsel zwischen der sanft vorgetragenen einleitenden Grundstimmung und der zielorientierten Handlung, die auf ein unvermeidliches Ende hinauslaufen wird, ist das klassische Konstruktionsprinzip beider Werke. Davon abgesehen schildert aber auch Simenon die Schattenseiten der Gesellschaft, der Klein-, Halb- und Profi-Kriminellen mit einem lakonischen Realismus, der nichts verklärt.

Von Umrissen zu Inhalten, von Skizzen zu runden Geschichten

Da Simenon alles verbal Überflüssige wegläßt, aber eine elegante Sprache pflegt, läßt er viel Raum für die Vorstellungskraft des Lesers. Der Leser vervollständigt idealerweise die vom Autor skizzierten Umrisse in seinem Kopf. Das ist wie beim Bloggen: Das Wesentliche können die Kommentare des Lesers sein – oder eben die Ausschmückung von Charakterisierungen im Kopf des Lesers.
Dies ist bei „Lone Wolf & Cub“ ähnlich. Die meist stilisierten Zeichnungen, die zwar gerade in der Anfangszeit mit etwas aufwendigeren Schraffuren gearbeitet haben aber weitestgehend auf den Ausdruck und nicht auf die perfekte Ausführung achten, lassen zu viele, unnötige Details weg, reduzieren das Zeichnerische oft auf das Notwendige und gleichen dies mit den an der filmischen Schnitttechnik orientierten Bildfolge und den Bildausschnitten aus. So erreicht diese Comicserie einen Wirkungsgrad im Verhältnis zwischen Aufwand und Nutzen, der seinesgleichen sucht.
Simenon läßt eine Welt erstehen, unter deren Oberfläche fein verästelte Konstellationen zwischen Menschen lauern, die nur der entdecken kann, der die Menschen und ihre Motivationen genau durchschaut. Dies erreicht er mit schriftstellerischen Mitteln und einem derart geringen Zeitaufwand, dass man ihm manchmal die grundsätzliche Seriösität absprechen und ihm ein Trivialinstrumentarium attestieren muß. Wäre da nicht der interessante Effekt, der sich in der Unterhaltungswelt in Zusammenhängen von Zeit- und Zwangssituationen immer mal wieder ergibt: Wer sich einen engen Rahmen gibt, wer unter Produktionszwang steht, und dies aushält, lernt es, mit wenig auszukommen. Mit wenig Zeit, mit wenig Worten, mit wenig Strichen, mit einfachsten darstellerischen Mitteln. Aus dem Blickwinkel der Effizienz erreichen solche Schöpfer das Ergebnis mit dem höchsten Wirkungsgrad – auf Kosten des Umstandes, dass Komplexität und Tiefgang des Werkes eingeschränkt sind, dass der Simplifizierung Vorschub geleistet wird. Die beiden Beispiele sind dennoch bemerkenswert und fast einmalig in ihrer Art. Man kann es auch so herum formulieren: Die Welt braucht nicht nur hochstehende elaborierte Literatur sondern auch Unterhaltung mit Anspruch.