Hyper-hyper: Der Text ist nicht mehr das, was er mal war.

Hyper-hyper: Früher hatte man eine Meinung, heute hat man mehrere, unter Umständen ziemlich viele. Eine Meinung stand anno dazumal für etwas, auf das man sich verlassen und beziehen konnte. So konnte man zum Beispiel seine politische Ansicht ernsthaft vertreten. Das hatte etwas Grundsätzliches und war mit dem jeweiligen Standpunkt im Leben untrennbar verwoben.

Das Leben war bestimmt durch feste Konstanten, durch einen Arbeitsplatz, den man potenziell ein Leben lang inne hatte oder eine Heirat mit lebenslanger Perspektive. Nicht nur sozial und politisch, auch religiös wußte man, wo man hingehörte.

Diffuse Kommunikation und eine flexible Lebensweise

Heute gibt weniger Konstanten, privat und beruflich sind fluktuierende Flexibilitätsmuster gefordert. Es gibt kontinuierliche Neuorientierungen und man erfindet sich im Laufe eines Lebens je nach Bedarf neu, um wirtschaftlich und imagemäßig existieren zu können. Und was ist mit den Überzeugungen, den Haltungen zu Themen, den Positionen, die man im Leben einnimmt? Man nimmt sie weniger ernst als früher. Doppeldeutigkeiten und Mehrdeutigkeiten haben Einzug gehalten. Standardmäßig findet man in der täglichen Kommunikation beißende Ironie und Zynismus. Genau genommen wird durch witzige Brechungen, durch postmodernen Humor, durch Aussagen, die man erst nach längerem Überlegen versteht, alles in Frage gestellt. Soll heißen: Das, was man gesagt bekommt, kann das bedeuten, wofür man es hält – oder das Gegenteil davon, oder noch etwas ganz Anderes. Dieser Zustand führt unter Umständen dazu, dass niemand mehr in einer klaren Haltung einen Vorteil sieht, weil eine klare Haltung starr ist und nicht zur Flexibilitäts-Orientierung der Jetzt-Zeit passt.

Informationen als Manövrier-Masse

Auf der Ebene der Informationsvermittlung ist es ebenso: Zu eindeutige Aussagen wirken fast wie eine Provokation, weil sie konfrontierende Angriffsflächen bieten. Im Zweifelsfall ist keine Information oder eine Allerweltsinformation immer noch besser als eine zu eindeutige Festlegung. Man kennt diese Auswüchse aus der Sprache der Propaganda, der Politik und der Werbung. Hinter „nicht-wirklich“-Aussagen verbirgt sich unter Umständen viel oder gar nichts. In anderen Fällen wie dem viel besprochenen zum Jahrhundertwechsel passenden Buch „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace sind beinahe unendlich viele Bezüge enthalten, viele Themen bearbeitet und Perspektiven eingenommen, ein schillerndes, überbordendes Etwas – dimensionssprengend, und äußerst  komplex. Das Buch und seinen Umfang zu bewältigen, ist nicht einfach, es doch zu tun und zu verstehen, hilft, unsere Lebenswirklichkeit zu verstehen. Diese Multi-Querbezüglichkeit kennt man auch von James Joyce und von Arno Schmidt.

Die Hypertext-Komplexität

Wir leben nicht nur im Zeitalter der Konstantenlosigkeit, gekoppelt mit einer übergeordnet fortschreitenden Orientierungslosigkeit, es wird als Folge davon im gesellschaftlichen Diskurs alles und jedes in Frage gestellt. Der allgemeine Verlust an Autorität hat ein Vacuum hinterlassen. Die medial bedingte Menge an Kommunikation scheint dies ausgleichen zu wollen. Hypertext, Intertext und vernetzte Informationen bieten als Textinformationen heute eine andere Art von Komplexität.

Ganz eindeutig: Mehrdeutiges Kommunizieren als Qualität

Die Art der Kommunikation hat sich beträchtlich verändert und ist beeinflusst durch das Leben mit Mehrdeutigkeiten und vielschichtigen Bezügen. Nur etwas zu meinen, zu sagen oder zu schreiben ist zu wenig, es muß sich sehr explizit auf vieles Andere beziehen. Ein neue Musikgruppe beispielsweise  wird immer gleich mit mehreren möglichen Vorbildern verglichen. Der Bezug auf Vorbilder im kulturellen Kontext ist nicht neu, alles, was kommunikativ entsteht, vollzieht sich in einem evolutionären Prozess der Rückbezüglichkeiten, der Interdependenzen. Alles fußt und basiert auf etwas – von Einsteins physikalischen Theorien bis zu Freuds Psychoanalyse, nichts ist im luftleeren Raum entstanden oder fiel einfach so vom Himmel. Alles hat seine Vorläufer. So ist die Intertextualität und die Definition eines kommunikativen Bezugsrahmens, das Gebot der Stunde. Eindimensionalität war gestern, mehrere Dimensionen gleichzeitig zählen heute.

Nicht ein Text alleine: Seine Vernetzung zählt

Zum Beispiel: Ich lese einen Endoplast-Artikel und kann, während ich lese, immer wieder auf orange Begriffe klicken, die Textlinks zu weiteren vertiefenden Inhalten auf anderen Webseiten sind. Der Text, der früher ein Artikel in einer Zeitschrift hätte sein können, vielleicht maximal ergänzt um ein paar Fußnoten oder einen Verweisinfokasten an seinem Ende, wird dadurch mit einer Fülle an Zusatzinformationen angereichert, die oft immer weiter von einer Web-Seite zur nächsten verlinkt sind: Informationstiefe als Fass ohne Boden. Diese Hypertextualität, dieses sich beziehen auf andere vertiefende Inhalte, ist typisch für unsere Zeit.

Denkgebäude auf Begriffswolken

Es geht nicht mehr um einen Text als alleinig seelig machend. Es geht darum, ihn einzubetten in ähnliche oder gegensätzliche oder um erweiternde Denkgebäude, ihn thematisch in einer großen Inhaltswolke zu verorten. Man verlinkt ihn, man stellt Verknüpfungen her, es ist in seiner Gesamtheit schillernd und umfassend und kommt noch am ehesten der künstlerischen Form von Collage, Cut-Up oder Remix nahe, die aus unterschiedlichsten Versatzstücken, die auf verschiedenartige Inhalte und Formen verwiesen, eine komplexe Gesamtform schufen. Der Gesamtzusammenhang auf dem Weg zur höheren Erkenntnis zählt. Doch die Informationsfülle, die dabei entsteht, ist kaum zu überblicken.

Kein Durchblick: Zu viel Wissen

Die Wissens-Gesellschaft krankt auch ganz generell an der Menge ihres Wissens. Wie soll man es nutzen, wenn ein Mensch es nicht erfassen kann? Die aktuelle Permanenz der Querverweise, die ständige Vernetzung der Informationen ist eine Antwort darauf. Ein Text allein reicht nicht mehr. Er funktioniert im Web zunehmend als Zettelkasten der Querverweise, nicht als Endpunkt der Wissenssuche sondern als inhaltsverweisender Drehpunkt des Wissens-Strudels, der sich immer schneller dreht und immer weiter verzweigt. „Vernetzung“ heißt das Gebot der Stunde: Technologisch, sozial, politisch, wirtschaftlich und auch informationell. Die Vernetzung von Informationen und Inhalten bietet die Chance, die Welt in ihrer Komplexität zu erfassen – sie aber auch hinter einer zu großen Daten-Fülle an zu verstecken.