Schwingen aus Stahl: Ob im Flugzeug oder im Hochgeschwindigkeits-Zug, immer kommt es darauf an, ob Menschen miteinander reden.

Schwingen aus Stahl: Ob im Flugzeug oder im Hochgeschwindigkeits-Zug, immer kommt es darauf an, ob Menschen miteinander reden.

Z.H. und ich sitzen im Zug. Z.H. beobachtet einen Fahrgast, den ich gar nicht beachte. Im Gegenteil, ich kümmere mich um gar nichts, sitze nur da, abgeschottet von der Welt. Es ist Nacht da draußen und ich habe gerade einen Artikel für Endoplast in Arbeit. Es geht um die Nutzung biometrischer Daten für die Personenerkennung in der Sicherheits- und Überwachungs-Branche.

Ich habe die ersten Sätze geschrieben, konzentriere mich auf das, was ich sagen will und schlüpfe gerade in die imaginäre Rolle eines Sicherheits-Chefs, um die richtige Perspektive für diesen absurden Artikel einnehmen zu können; denn natürlich ist die absolute Sicherheit eine kranke, degenerierte Fiktion. Dennoch: Der Vorgang des „Sich-in-jemanden-Hineinversetzens“ ist ein kräftezehrender, ein unglaublich anstrengender. Ich bin also quasi dieser Sicherheits-Chef, als Z.H. mich anstösst und sich verschwörerisch zu mir hinüberbeugt.

Es ist Nacht da draußen, Z.H. spiegelt sich in der dunklen Fensterscheibe und sagt mir ganz leise, sie könne durch die Ritze zwischen den beiden uns gegenüber befindlichen Sitzen hindurchgucken. Ich höre nicht richtig hin, nicke abwesend wie zur allgemeinen Bestätigung von irgendetwas, zum Beispiel auch dessen, was sie gerade gesagt hat. Sie sähe dort einen Jungen sitzen, der Kaugummi kaue. Noch abwesender lasse ich ein kaum wahrnehmbares Geräusch der diffusen und noch allgemeineren Zustimmung vernehmen. Ob ich den sehen könne?. Wobei sie vorwegnehmend hinzufügt „wohl nicht“. Ich kann ihn tatsächlich nicht sehen, bin durch dieses Gerede aber schlagartig nicht mehr der muskulöse Sicherheitschef einer imaginierten Firma. Ich gucke also gestört hoch, zwischen den beiden Sitzen hindurch. Nein, tatsächlich, dort befindet sich nur eine abgründige Dunkelheit, ich kann ihn nicht sehen.

Ich wende meinen Kopf nach links, Z.H. zu. Ich bin echt genervt von diesen ewigen Bemerkungs-Stream, den sie während der kompletten mehrstündigen Fahrt absondert. Obwohl wir alle beide zwei steife Deutsche mit geraden bzw. durchgedrückten Rücken sind – die deshalb in nicht allzuferner Zukunft sicherlich erschreckend schmerzhafte Bandscheibenvorfälle haben, die in Gesundheits-Standardwerke aufgenommen sein werden und ab da als die maximal schlimmst möglichen oder sogar denkbaren aller Rückenleiden beschrieben werden würden –, bin ich zur Zeit, in diesem speziellen Augenblick, vollständig davon überzeugt, dass wir sehr unterschiedliche Vorfahren gehabt haben müssen. Ihre waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geschwätzige Italiener gewesen, ein Tiroler Bergvolk, das ohne Unterlass radebrechend locker jeden 9.000er bestiegen hat, einfach so, ohne jedwede Anstrengung aber eben dauernd dabei redend, während meine Vorfahren karge Stoiker waren, die nie ein Wort gesprochen haben und verbale Kommunikation generell mit Belästigung gleichgesetzt haben.

Auch hier zeigt sich der gravierende Unterschied zwischen der Fröhlichkeit des Rheinländers und der Verschlossenheit des Westfalen, deren Widerstreit das Land Nordrhein-Westfalen ausmacht. Wobei die Rheinländer nicht immer fröhlich sind – man denke nur an die Schlacht von Worringen.

Während ich mich also wieder beruhige und mich kontemplativ sammle, höre ich durch Z.H.s Lippen erneute Beschreibungen dessen, was sie gerade sieht. Sie sagt leise, er würde die ganze Zeit Kaugummi kauen und während er kaue, träten die Muskeln an seinen Schläfen hervor, sehr, sozusagen in ganz besonderer, nice gekannter Weise hervor. Ich werde trotzdem nicht neugierig, tippe stur weiter und tue so, als könnte ich mich trotz allem konzentrieren. Tatsächlich stelle ich mir ein ausgemergeltes Gesicht mit überdimnesionierter Kau- und Stirnmuskeln vor, das die Form einer Sanduhr hat – also an der Stirn- und Kieferregion breit ausladend und in der Mitte dazwischen deutlich schmaler.

Sie beschreibt ihn mit der hingehaucht-dramatisierenden Stimme eines Menschen, der absolut nicht fassen kann, was er da sieht, dass sie solche Kaumuskeln noch nie gesehen habe, dass das unglaublich sei, nicht von dieser Welt, dass er wohl dauernd Kaugummi kauen müsse, also rund um die Uhr, auch im Schlaf, um eine solche Kaumuskulatur bilden zu können, dass sie noch nie einen Menschen mit solch einer muskulösen Stirn gesehen habe, dass sie dankbar sei, genau zu dieser Zeit in diesem Zug mitfahren zu dürfen, weil sie nur durch diesen Zufall des Wunders dieser außergewöhnlichen Stirn-Kau-Muskulatur angesichtig geworden wäre. Dass dies nahezu ein Weltwunder sei, dass die durch das Hervorstehen der Stirnmuskulatur, die durch permanentes Kauen erzeugt werde, eine Kopf-Silouette erzeuge, die aussähe wie ein paar Flügel. Ich höre all dies wie durch einen Nebel der unbewussten Ahnungslosigkeit.

Als der Zug anhält und der Junge mit dem Wunderkopf – der Arnold Schwarzenegger der Kopfmuskulaturen – aufsteht und aussteigen will, rammt mir Z.H. ihren Ellenbogen in die linke Niere und bittet mich zischelnd endlich zu gucken. Mir wird schwarz vor Augen. Im Traum sitze ich in einem Flugzeug, ich bin der rote Baron. Ein Glück, es ist eine einsitzige Maschine und die Funkverbindung ist ausgefallen. Keine menschliche Stimme, nur der stotternde Motor.