Marcel Reich-Ranicki: Der Literatur-Papst liest uns die Levithen.

Marcel Reich-Ranicki: Der Literatur-Papst liest uns die Levithen.

Marcel Reich-Ranicki, der heute 90 Jahre alt geworden ist, gilt als einflußreichster Literaturkritiker des deutschen Nachkriegs-Feuilletons. Heute ist eine Geburtstagsrede von Siegfried Lenz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zu lesen gewesen. Außerdem ein Interview, das Frank Schirrmacher als sein Nachfolger bei dieser Zeitung geführt hat.

Darin sagt Marcel Reich-Ranicki, dass ihn Veröffentlichungen junger deutscher Autoren nicht mehr interessierten und er empfiehlt seiner jüngeren Kollegen das eingehende Studium von Goethes „Faust“ oder „Iphigenie auf Tauris“. Das klingt nicht sehr zeitgemäß.

Verdienstvoll: Die „Frankfurter Anthologie“
Reich-Ranicki, war von 1960 bis 1973 Literaturkritiker der Wochenzeitung „Die Zeit“. Direkt im Anschluß hat er bis 1988 die Literaturredaktion der FAZ geleitet. Heute hat der Publizist zwar noch ein kleines Büro dort, von dem aus er die Gedichtserie „Frankfurter Anthologie“ redaktionell betreut, aber die literarischen Geschicke des Blattes hatte er längst an Frank Schirrmacher weitergereicht. Vielleicht hat Reich-Ranicki früh genug die Notwendigkeit erkannt, einem jüngeren Nachfolger den Platz zu räumen, damit die FAZ zeitgemäß bleibt. Die „Frankfurter Anthologie“ jedenfalls ist seit dem 15. Juni 1974 einmal wöchentlich in der Samstagsausgabe der FAZ erschienen und im Insel-Verlag in Jahresbänden publiziert worden. Ab beim nächstem Jahr wird die Reihe nach dem Weggang vom Suhrkamp-Verlag wohl im S. Fischer Verlag weiter erscheinen. Das Projekt ist ein einmaliges Unterfangen: Es stellt jeweils ein Gedicht und dessen Interpretation vor.

Ein Kritiker, der gerne didaktisch provoziert
Wie verdienstvoll die Kontinuität und das Nahebringen von Gedichten sein mag, kann man kaum ermessen. Es zeigt aber zweierlei: Zum einen den didaktischen Ansatz Reich-Ranickis, ob vor Fernsehkameras im Literarischen Quartett oder anderswo in populärer Form oder in seriöser in dieser verdienstvollen Reihe. Zum anderen aber auch das konservative literarische Weltbild Reich-Ranickis. Von über 1.700 Gedichtbeiträgen, die bis heute erschienen sind, sind alleine über 120 Goethe-Gedichte. Sein Thema sind die deutschen Klassiker und wenn nicht die, dann jene Autoren, die einen eher klassischen Ansatz haben. Reich-Ranickis Thema waren und sind Autoren wie Thomas Mann, wie Martin Walser oder Günther Grass. Mit dem Österreicher Thomas Bernhard hatte er zunächst Schwierigkeiten, war dann aber doch begeistert von dessem literarischen Schaffen. Er liebt auch Kafka, aber die Avantgarde ist nicht sein Thema. Nicht nur dem Amerikaner William Gaddis hat er empfohlen weniger umfangreiche Bücher zu schreiben, auch hat er angeregt, Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ erheblich zu kürzen – ganz unberechtigt mag der Vorschlag nicht sein, aber die Dreistigkeit, mal eben die Hälfte eines Wälzers der Weltliteratur, geradezu ein Heiligtum der Literaturszene zu schreddern, ist auch schon wieder Avantgarde, in jedem Falle aber provokant.

Polarisierung und Prägnanz der Aussage als Erfolgsrezept
Wenn man sich die ersten zaghaften Laufschritte Reich-Ranickis im deutschen Fernsehen ansieht, so klingt er dort genauso vergeistigt und verquast wie jeder andere Literaturkritiker. Im Laufe der Jahre hat er sein Provokations-Vermögen geschult, seine Sentenzen glattgeschliffen und vereinfacht. Kummuliert ist dieses Streben im Medienereignis „das Literarische Quartett“, einer Fernsehreihe zwischen 1988 und 2001 im ZDF. Dort konnte er sein profundes Wissen in eine populäre Form gießen, konnte qua der Reichweite des Fernsehens, auf das er später schimpfen sollte, Menschen erreichen, die sonst von ihm kaum Notiz genommen hätten, weil es keine ihrer Gepflogenheiten ist, ein Feuilleton zu goutieren. Feingeister waren in dieser Phase teils geschockt von seinen unsensiblen Allgemeinplätzen, seinen unglaublichen Vereinfachungen. Allein: Eine zeitlang war das völlig neu und ungewohnt für den Literaturbetrieb. Es war, als würde ein Gott auf Erden wandeln und Nebensächliches (wie Literatur) so thematisieren, dass es die Sterblichen endlich verstehen. Reich-Ranicki konnte so anspruchsvoller Literatur zum Bestseller-Status verhelfen und wurde unter dem Fernseh-Volk so richtig populär. Dabei polarisierte er sein Publikum, wie man es nur polarisieren kann.

Der Punk der späten Jahre
Jetzt ist er also 90 Jahre alt geworden, als Geistesgröße, die nie studiert hat, als genauer Leser und Analytiker von Literatur sowie als Beobachter des Literatur-Betriebes oder -Theaters – als streitbarer Geist auf der Suche nach der Wahrheit in der Literatur. 90 Jahre Streit und Punk und Schreierei. Es hat sich gelohnt.