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Oma ist gefallen. Wie oft, wissen wir nicht. Der per Notknopf gerufene Sozialdienst war innerhalb von 48 Stunden dreimal da. Ihr grotesk entstelltes Gesicht und die Blutlachen auf den grottigen 60er-Jahre-Teppichen sprechen für viel Schlimmeres. Erinnern kann sie sich nicht. Beim Bäcker war sie, da ging es ihr nicht so gut.

Eines weiß sie aber mehr als genau – ins Heim geht sie nicht.
Blutverschmiert, verbeult und benommen sitzt sie wie ein Ghoul nach endlosem Bitten dann doch in der Notaufnahme. Ich versuche meine überforderte Mutter in Schach zu halten, die das Krankenhauspersonal tätlich anzugehen droht, und gleichzeitig meine heulende Tante zu beruhigen, während Oma Gift und Galle spuckt, weil ich’s ihr gesagt habe: “Omi, Du kannst nicht mehr nach Hause!“ Ein paar Stunden bevor sie 89 wird.

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Was so hochemotional über uns hereinbrach, wurde schnell strukturiert.
Für alles gibt es Prozesse in unserer Welt, auch und ganz speziell für das Altwerden in einer überalterten Bevölkerung. Sozialdienste erklären gebetsmühlenartig, dass „Entmündigung“ heute eine „rechtliche Betreuung“ ist. Und unter dem Stichwort „Altenheim“ findet man im Netz nur noch die Hochglanzbilder einer Senioren-Residenz im hinterwäldlerischen Ohio. Die Dinge mögen anders heißen, für Oma bedeuten sie das Gleiche: Die Aufgabe von Privatsphäre, Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit. „Eher schmeiß ich mich vor den Zug!“

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Dank des Systems ist der Wille meiner Oma bald gebrochen.
Der Chefarzt, die Krankenschwestern, ihre Hausärztin, Verwandte, die sich sonst nicht riechen können… alle singen plötzlich im Chor. Auch ich stimme ein und bin froh, dass sie endlich einwilligt. Meine kratzbürstige Oma unterschreibt restlos alles: Die endlosen Anträge für die Unterbringungskosten, die Generalvollmacht für ihre Töchter, die Kündigung ihres Mietvertrags. Aber glücklich ist sie damit nicht – ich allerdings auch nicht.

Ich hatte mich auf monatelange Arien und Ämterkämpfe eingestellt.
Stattdessen erscheint es mir leichter, einen Heimplatz im Grünen zu ergattern als einen Kindergartenplatz im rechtsrheinischen Ghetto. Zum ersten Mal blicke ich der Seniorengesellschaft ins Angesicht. In der ZEIT fällt mir ein Artikel in die Hände, in dem ein rüstiger Herr den Schritt freiwillig tut. Mulmig scheint ihm zumute zu sein, aber er wirkt doch optimistisch. Sowas liest man gerne.

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Wir alle haben gute Gründe:
Ich will meine eigene Mutter schützen, die in ihrem Leben mehr als genug mitgemacht hat. Meine Tante versorgt schon die Kinder meiner allein erziehenden Cousine. Und letzten Endes wäre das Leben in ihrer eigenen Wohnung im ersten Stock für Oma in ihrem desolaten Zustand pure Illusion. Trotzdem, ein anderes Szenario wäre mir lieber. Eines, in dem sie weiterhin tagein tagaus dem Personal in ihrem Lieblingscafé den letzten Nerv rauben kann. Recht auf Selbstbestimmung. Und wenn die in dem Café nun mal nichts Besseres gelernt haben, müssen sie eben zänkische Ladies ertragen.

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No mercy.
Schneller als gedacht informiert uns die „Einrichtung“ unserer Wahl telefonisch, dass jemand „ausgezogen“ sei. Die Pfleger dort haben zwar was Besseres gelernt als die im Café, klar kommen müssen sie jetzt mit Oma trotzdem. No mercy. Am erstbesten Feiertag gehe ich sie besuchen. Die Wunden sind ganz gut verheilt und nun benutzt Oma wohl oder übel den Rollator, gegen den sie sich die letzten fünf Jahre vehement gewehrt hat. Meine heulsusige Tante ist auch wieder da. In einem unachtsamen Moment rutscht sie in der Cafeteria aus und stürzt. Mit der Hand schlägt sie ausgerechnet gegen den verhassten Rollator, so dass sie die nächsten Wochen die Extremität eines Michelin-Männchens mit sich herumträgt. „Siehste, jeder kann mal fallen. Jeeee-der! Meinen Sie nicht auch?“ Am Nachbarstisch eifriges Nicken. Oma hat mal wieder alle fest im Griff.