Usama bin Ladin, Mensch und Un-Mensch

Der Tod eines Unmenschen kann einen dennoch rühren, sofern man nicht selbst einer geworden ist.

Ich bin nach Hause gekommen.
Du hast weinend am Tisch gesessen.
Ich habe gefragt „Was ist los?“

Du hast gesagt: „Sie haben Osama bin Laden hingerichtet. Ohne Prozess.“
„Was?“ habe ich da gerufen. „Spinnst Du? Was ist denn schlimm daran?“
Du hast aufgehört zu weinen, hast hochgeschaut und jede Silbe betonend gesagt:
„Er – war – ein – Mensch!!“
„War er das? Ein Mensch, der Dich killen wollte!“, erwiderte ich höhnisch.
„Das weißt Du doch gar nicht“, hast Du mich angeschrieen.
„Ach“, hab ich gesagt, „aber Du weißt genau, dass ihm die Menschen wichtig waren?
Denk mal an den 11. September 2001, da hat er wahllos Tausende gekillt.“
„Trotzdem darf ein Staat nicht mit gleichen Mitteln zurückschlagen.
Unrecht gegen Unrecht geht nicht“, hast Du gesagt.

„Ok“, beruhigte ich mich langsam wieder, „was hätten die denn anstatt dessen tun sollen?“
„Ihn vor ein Gericht stellen und gucken, ob sie ihn verurteilen können.
Das haben sie mit Saddam Hussein ja auch gemacht.“

„Und Gaddhafi? Darf man den auch nicht bombardieren?“
„Nein, darf man nicht“, entgegnetest Du trotzig.
„Völkerrechtlich darf man nur das gequälte Volk schützen, nicht wahllos bombardieren.“
Ich schüttelte widerstrebend den Kopf: „Ich möchte Dich mal sehen, wenn einer von Deinen Freunden im TwinTower gesessen hätte…Ob Du dann auch noch so reden würdest. Du bist doch total verbildet, Theoretikerin!“
„Verbildet, weil ich für die Menschenrechte bin?“
„Hat Osama bin Laden sich denn um die Menschenrechte gescherrt?
Er würde, wenn er könnte, Dich, mich, unsere Familien, unsere Freunde und Nachbarn in die Luft jagen, weil er gemeint hat, dass sei sein religiöser Auftrag.“
„Das ich auch nicht richtig, klar…
Ich meine ja nur, dass wir ein Rechtssystem haben, kein Faustrecht, keine Lynchjustiz.
Wir haben ein Rechtssystem, die USA auch, und das wird politisch-militärisch ausgehebelt. Barack Obama hat den Friedensnobelpreis bekommen und killt einen Menschen. Er hat den Befehl gegeben, das ist so, als hätte er selbst abgedrückt. Ich spucke aus vor ihm.“

Von den Kreuzzügen zu El Salvador, Nicaragua und Afghanistan

Ich hatte mich inzwischen hingesetzt.
„Im Prinzip hast Du ja Recht. Es ist nur so, dass Osama bin Laden, ähnlich wie Hitler, durch die Schlaffheit des Systems groß geworden ist. Man hätte ihn richtig bekämpfen müssen, bevor er stark geworden war. “
„Nein, so ist es nicht. Geh doch mal zurück in den Geschehnissen. Im Krieg der Sowjets gegen Afghanistan in den 80er-Jahren haben die USA die Hardcore-Islamisten unterstützt, damit die gegen den roten Feind Sowjetunion kämpfen und die Drecksarbeit machen. Die CIA hat Osama bin Laden und viele andere nicht nur unterstützt, sie hat sie gestärkt, ausgebildet, strategisch unterwiesen, hat ihnen High-Tech-Morden beigebracht. Damals hat es politisch ins Kalkül gepasst. Es war sozusagen eine Win-Win-Situation. Die Terror-Islamisten profitierten, die USA auch.“
Das wußte ich, klar. „Später hat sich Osama bin Laden gegen den Imperialisten USA gewandt und gegen ihn gekämpft. Für ihn sind alle, die Russen, die USA, Ungläubige.“
„Und“, hab ich eingehakt, „er hat seinen Glauben so ausgelegt, dass alle Ungläubigen bekämpft werden müssen.“
„Ja, das stimmt“, hast Du entgegnet, „aber die Geschichte fängt viel früher an.“
„Meinst Du am Ende zu Zeiten der Kreuzritter?“
„Ja, genau, vor ziemlich genau tausend Jahren begannen die Kreuzzüge, angebliche Religionskriege.“
„Und in den Jahrhunderten vorher haben die Araber angegriffen.“
„Na gut“, hast Du Deinen Kopf abwägend geneigt, „vielleicht ein Unentschieden?“
„Osama bin Laden war aber gar nicht mal so unentschieden.“
„Stimmt, und die CIA war in Lateinamerika auch nicht zögerlich, wieviel Hunderttausende sind denn da in faschistischen Kerkern gefoltert und getötet worden, unter der Protektion der USA?“
„Man soll die Anzahl von Toten nicht aufrechnen, aber Du hast schon Recht, klar, so gesehn, sind die paar Tausend, die Osama bin Laden sich aufs Gewisssen geladen hat, nicht viel.“
„Zumindest sind seine Opfer nicht die einzigen Opfer. Seine Morde werden schlimmer bewertet, weil er es sich gewagt hat, Amerika anzugreifen und dem ganzen mächtigen Kontinent Angst zu machen.“

Von Kontinenten und Gesellschaftsmodellen: Wer ist der bessere Mensch?

Es war spät geworden.
„Wie einigen wir uns jetzt“ fragte ich.
„Keine Ahnung!“
„Du weinst auch gar nicht mehr.“
„Ja. Ich habe aber nicht um Osama bin Laden geweint. Ich habe geweint, weil die Menschlichkeit unter die Räder gekommen ist.“
„Bei wem? Bei ihm?“
„Nein, allgemein. Ich kenne ihn ja nicht. Er ist eine Medienfigur, für mich irgendwie virtuell. Ich weiß aber, dass, wenn man immer auf die Geschichte verweist und sagt, dort waren die Kreuzzüge und heute müssen wir uns wehren, dann ist das richtig und falsch.“
„Wieso beides?“
„Ich kann verstehen, dass man sich total über das Großmachtgehabe der Amerikaner ärgern kann, dass man beginnt sie zu hassen, weil die Amerikaner Millionen Leichen zu verantworten haben. Wenn es nur ihren Interessen gedient hat, kannten die kein Pardon. Sie haben im sowjetischen Afghanistan-Krieg die Taliban und Al Kaida vorgeschickt und verheizt. Weil es ja so schön bequem war.“
„Und andererseits?“
„Andererseits kann man nicht immer nur im Gestern leben. Wenn man seine eigene Gewalt mit der Gewalt gegen die Großväter begründet, ist das eine unendliche Spirale, die sich ewig dreht.“
„Da stimme ich Dir zu. Die Kreuzzüge von vor tausend Jahren hatten offiziell das Ziel, das heilige Land zu befreien. Und die gleichen Worte hat auch Osama bin Laden gewählt. Er wollte nicht ruhen, bis Palästina befreit ist.“
„Und so weiter und so fort. Es ist aber schon ein Trugschluß, aus einer Religion ableiten zu wollen, dass man alle anderen Menschen bzw. Menschen, die an einen anderen Gott glauben, per Maxime bekämpfen oder ausrotten darf.“
„Oder, wenn man glaubt, das sind alles Imperialisten, was die Amerikaner ja auch waren, sie müssen es aber nicht für immer bleiben.“
„Tja, wir sind uns wahrscheinlich einig, dass Gewalt keine Lösung ist.“
„Theoretisch ja, aber Gewalt ist in der Welt. Was würdest Du denn denken, wenn Du weißt, dass viele Golfstaaten von Despoten regiert werden, die mehr oder weniger, direkt oder indirekt am Tropf der westlichen Welt hängen? Was könntest Du gewaltlos dagegen machen?“
„Ja ich weiß, aber Du kannst das, was geschehn ist, halt nicht mehr rückgängig machen. Es ist wie es ist und jetzt bei den Revolutionen in Nordafrika und im nahen Osten scheinen sich die USA ja schon irgendwie auf die Seite der Menschenrechte zu schlagen.“
„Mag sein, aber das ist ein neues Thema. Ich wollte nur wissen, warum Du geweint hast. Es war also kein Weinen um den armen Osama bin Laden?“
„Nein, ich habe geweint, weil ich es menschlich verwerflich fand, jemanden einfach so hinzurichten, ihm in den Kopf zu schießen. Für wen soll das denn ein Vorbild sein? Vielleicht für texanische Cowboys und für die Waffenindustrie, die jetzt sagen kann, unsere Präzisionswaffen töten jeden Terroristen. Die Menschheit kommt aber nur durch Kooperation weiter. Nicht durch Aggression.“
„Weise Worte. Lassen wir es so stehen, für heute.“
„Danke.“