Fotos: Markus Meiser

Fotos: Markus Meiser

Das Moers Festival, Jazzfestival, das sich selbst schon lange nicht mehr Jazzfestival nennt, aber in seinem Kern weiterhin um den weitest denkbaren Begriff des Jazz kreist, fand an Pfingsten in seiner 40sten Ausgabe statt. Es versteht sich als Speerspitze einer musikalischen Avantgarde, als Ort besonderer Musik für ein interessiertes Spartenpublikum. Das macht es seit jeher so gut, dass der Name des kleinen Städtchens am Niederrhein unter Jazzfreunden in aller Welt einen guten Klang hat.

Den Moersern selbst, die ihren kollektiven Zusammenhalt lieber aus der Strahlkraft des 2005 verstorbenen Hans-Dieter Hüsch beziehen, ist das Festival seit jeher verhasst. Ein Sodom und Gomorrha vernichtet alljährlich zu Pfingsten ihren Freizeitpark. Hippies, Säufer und Haschischraucher bevölkern die Wiesen. Und das, obwohl ihnen nicht zuzutrauen ist, die marode Wirtschaft der Stadt für diese drei Tage in ein Plus zu zechen. Frechheit. So wundert es nicht, dass das Festival seit ehedem um seinen Bestand fürchten musste, nicht erst, seitdem die Stadt Moers für ihre Misswirtschaft unter die Haushaltssicherung des Landes fiel.

Dieses Jahr musste schmerzhaft ein ganzer Tag abgegeben werden. Immerhin, der avisierte Ersatz für den Montag – Helge Schneiders Heimatabend – versprach, ein echtes Trostpflästerchen zu werden. Doch Helge Schneider kollabierte letze Woche und der Montag entfiel ganz.

Die Existenz des Festivals stand schon oft auf auf dem Spiel. Doch noch nie wurde von den Verantwortlichen so wenig – genaugenommen gar nicht – über die Finanzierung und die Zukunft des Festivals gesprochen. Auf der Pressekonferenz Lobreden über das „Drehkreuz Moers“, die superattraktive Kulturstadt. Sylvia Löhrmann, die stellvertretende Ministerpräsidentin in NRW, nutze das Forum schamlos, themenfremd ihre Schulpolitik zu belobhudeln, auch wenn ihr Redenschreiber einen guten Übergang textete. Aber bei allen Protagonisten eisernes Schweigen über die Finanzierung, dass einem Angst und Bange werden kann. Das Festival steht auf der Kippe und niemand wagt, das auch nur zu erwähnen. Geschweige denn, offen für seinen Erhalt einzutreten. Selbstbeweihräucherung und Schönreden des Provinzstädtchens Moers ändern nichts an dem alten Schwebezustand: Das Festival könnte jederzeit zu Grabe getragen werden.

Existenzrechtfertigung

Wie bei anderen nicht gewinnorientierten Kulturereignissen, in die öffentliche Gelder fliessen – wahnsinnig teure Opernhäuser ausgenommen – führt der Finanzdruck zu einem andauernden Rechtfertigungszwang. Von einem kulturellen Bildungsauftrag ist gerne die Rede, doch ist der Jazz der Politik wohl nicht tot und abgehangen genug, um die geldwürdigen Weihen der Hochkultur zu erlangen. Das Moers Festival eignet sich sich nicht für einen feinen Auftritt im Smoking.

Ein anderes Argument lautet, hier finde die Zukunft der Musik statt. Man erhasche einen Blick voraus durch die Zeit. Jungen Musikern mit neuen Ideen müsse ein Forum geboten werden. Doch hat wohl schon jeder gemerkt, dass das Angebot des Festivals zu extravagant ist, um jemals in die seichten Gewässern des Mainstreams zu münden.

Selbst unter Jazzfans kursiert seit Jahre die These, musikalische Innovation finde ausschliesslich jenseits des Jazz statt. In den 90ern zum Beispiel in den Wohnzimmern von Kids, die ihren auf Flohmärkten erworbenen Drummachines ganz neue Musikstile entlockten. Menschen ohne Ausbildung an richtigen Instrumenten beherrschten eine ganze Szene. Die Szene, in der sich junge Leute, das Nachwuchspublikum jeglicher Musiker und Festivals, heimisch fühlten.

Grenzgänger

Etliche Jazzer versuchten sich – nachdem abzusehen war, dass der Wahnsinn der Maschinenmusik anhalten würde – als Grenzgänger, bastelten an Computerbeats oder fraternisierten mit Hiphop-Musikern. Das sollte die jungen Leute anlocken. Oft kam es so nur zu einem Nebeneinander, zu einer Anbiederung an das junge Publikum, bei dem alberne Gesten und prollige Ausdrucksweise herusreissen sollten, was an musikalischem Einfall fehlte.

Um so erfreulicher dieses Jahr Ingmar Thomas & The Cypher, die Hiphop-Elemente in angenehmer Dosis organisch mit eigenem Jazz verschmelzen, so dass mehr als nur die Teile des Einzelnen entstehen. Es handelt sich nicht um die Anbiederung an ein dem Jazz fortlaufendes Publikum sondern um eine neue, zwangloses Synthese. Ingmar Thomas, der den von der Gitarre Jimi Hendrix‘ bekannten Wah-Wah-Effekt mit seiner Trompete einsetzt, als sei eine Trompete nie anders gespielt worden, ist mit Jazz und Hiphop gleichermassen aufgewachsen. Sein Umgang mit innovativen Formen ist abgeklärt und selbstverständlich.

Jenseits von Moers: Innovation Metall

Auch die in Moers und im Jazz weitgehend ignorierte Metall-Musik mit all ihren Subgenres hat mittlerweile Freundschaft mit dem Jazz geschlossen. Wenn auch, soweit ich übersehen kann, nur in Form der Band Panzerballett, die es bisher nicht nach Moers geschafft hat, aber sowohl vor (reinem) Jazz-Publikum als auch vor (reinem) Metall-Publikum mit Erfolg spielt.

Der Jazz, zumal der der Grenzgänger in Moers, besitzt noch Innovationskraft, auch wenn die großen Überraschungen ausblieben. Die dieses Jahr in Moers präsentierte Musik erneuert sich nicht radikal, doch sie bewegt sich und bleibt frisch. Das fällt besonders bei den Veteranen des Festivals auf.

Frische Veteranen

Abdullah Ibrahim, ehemals Dollar Brand, spielte ein Klavier-Solokonzert, dem ein volles Zelt konzentriert lauschte, obwohl Gewitterregen brutal laut auf das Zeltdach niederprasselte. Ibrahim spielte ohne abzusetzen seine Stunde durch. Seine Musik bedarf nicht der Rechtfertigung durch eine traditionelle Struktur, in der Melodieteil und Improvisation einander abwechseln. Während sein rechte Hand virtuose, durchweg spannende Improvisationen bot, sorgte seine Linke immer wieder für einfache, abwechslungsreiche Muster und strukturiert so ein langes Stück, dem man gebahnt bis zum Ende lauschte.

Auch Nils Petter Molvaer, im Trio mit dem Gitarristen Stian Westerhus und dem Schlagzeuger Erland Dahlen spielte ohne Pause seine soundgewaltige Musik die ihm zugestandene Bühnenzeit durch und zog das Publikum in seinen Bahn. Molvaers Trio reichert seine Instrumente mit elektronischen Effekten und Loops aus dem Computer an und verführt in einen Kosmos aus aufgetürmten Klängen, in dem man sich gerne länger aufgehalten hätte.

Überhaupt sind lange Stücke der dieses Jahr zu entdeckende Trend. In Moers einen Trend zu entdecken war schon immer ein Zeichen dafür, dass das Festival ganz nah am Geschehen agiert.

Blasmuskeln

Der Saxophonist Jon Irabagon blies mit seinem ersten Stück 40 Minuten lang energetisch ins Publikum. Dabei vermischte er Sonny-Rollins-Zitate mit seinem eigenen, kraftvollen Stil, wie es vor ihm wohl noch keiner getan hat. Kein Epigonentum sondern sinnvolle Weiterverarbeitung. Er koppelt einen schönen Sax-Ansatz mit viel Energie. Um so lange Zeit so kräftig zu blasen, muss der Musiker vorher ausdauernd in der Muckibude für Saxophonisten trainiert haben. Auch das möglicherweise ein Trend, der vor zwei Jahren mit dem Bass-Saxophonisten Colin Stetson in Moers begann. Mit seinem zweiten Stück an Samstag Nachmittag gelingt Irabagon dann doch noch die Verbeugung vor dem Saxophongiganten Sonny Rollins.

Andere Moers-Veteranen, die mit musikalischer Frische und wiederum ausdauernden Stücken überzeugten, waren der Drummer Ronald Shannon Jackson, der Gitarrist Vernon Reid und der Bassist Melvin Gibbs, auf die viele Festivalbesucher sich lange im Voraus gefreut hatten. Der Auftritt stand auf der Kippe, Jackson lag im Krankenhaus. Erst kurz vor ihrem Auftritt wurde Entwarnung gegeben. Jackson spielte. Er spielte großartig, von Schwäche keine Spur. Reid huschte rasant übers Griffbrett seiner Gitarre, die mal rockig, mal jazzig klingen durfte. Melvin Gibbs holte Erstaunliches aus seinem Bass heraus, das über die gewohnte Begleitfunktion hinaus ging. Er spielte teilweise sitzend, um mit beiden Füssen gleichzeitig die vor ihm auf dem Boden verteilten Effektpedale bedienen zu können.

Überraschungskonzert

Zu einem Überraschungskonzert am Sonntag Abend betrat Ornette Coleman mit seinem Quartett die Bühne. Als einer der Väter des Free Jazz hat er sich längst weiter entwickelt und einen eigenen, unverkennbaren Sound geprägt. Coleman ist alt geworden. Auf der Bühne bewegt er sich langsam, fast unsicher. Sein Bassist Al MacDowell musste ihm die Noten umblättern. Doch sobald er in sein Saxophon blies, war er mit Leidenschaft und Musikalität präsent. Einer der Höhepunkte des Festivals.

Unter den deutschen Musikern taten sich The Dorf hervor. Eine nach Verfügbarkeit aus einem Pool von Musikern zusammengetretene Big Band, die sich einiges traut, jazzt und rockt und alles jenseits dessen, was man mit dem Begriff Big Band sonst in Verbindung bringt.

Aus Japan überraschte Michiyo Yagi mit ihrem Double Trio, zwei Schlagzeugern und zwei Bassisten. Sie holte aus ihrem Koto traditionelle wie neue Sound heraus und chanierte zwanglos zwischen traditionell und experimentell.

Das Moers Festival ist auch im vierzigsten Jahr seinem Anspruch gerecht geworden. Es stellte innovative Musiker vor und zeigte Trends auf. Aber braucht ein Festival diese Rechtfertigungen wirklich? Denn letztlich waren es drei Tage voller erstaunlicher Musik, wie es sie ihresgleichen an keinem anderen Ort gibt. Das Publikum, so war allerorten Gesprächen zu entnehmen, war hoch zufrieden.

Warum reicht es nicht, dass ein Festival mit seiner Musik begeistert? Zwischen der Welt der politischen Lippenbekenntnisse und dem Ereignis selbst klafft eine seltsame Lücke. Das bequeme Aussitzen der Politik verursacht große Sorgen, die musikalische Darbietung begeistert restlos. Hoffen wir auf ein Moers Festival 2012.