Android und der App-Wahn

Die Fiktion des Selbstbildes und die Realität der Welt bedingen sich gegenseitig und gehen auf in einer technikverliebten Welt. Es beginnt zunächst ganz unspektakulär: Ein Unternehmen schafft sich eine Software an und erhält zum einen ein Grundpaket, zum anderen läßt es diese Software-Basis auf seine Ansprüche hin programmiertechnisch individualisieren.

Oft hat der Kunde vorher noch die Möglichkeit, das Basis-Paket um verschiedene Standard-Module zu erweitern bis es zur eigentlichen programmiertechnischen Erweiterung kommt, die seinen Bedürfnissen entspricht. Überhaupt schöpft heutzutage jeder Programmierer aus einem schier unüberschaubaren Fundus an Programmier-Code-Bibliotheken und -Schnipseln, die Repräsentanten von Funktionalitäten sind und nach menschlichem Ermessen unendlich viele Möglichkeiten bieten.

„Add-Ons“ & „ExTensions“: Module der Bereicherung

Ich denke zurück an das sogenannte „Desktop-Publishing“, das ab 1984 aufgekommen war, als Drucksachen mittels Layout-Programmen zum ersten Mal vollständig am Bildschirm gestaltet werden konnten – inkl. Schrift, Fotos und allen übrigen Gestaltungselementen. Das lange Zeit erfolgreichste Gestaltungs-Programm war „Quark-X-Press“. Seine Besonderheit: Es gab die Schnittstellen zu seinem Programmkern für Fremdprogrammierer frei, sodass die kleine Erweiterungen – die sogenannten „X-Tensions“– problemlos hinzuprogrammieren und ins Hauptprogramm integrieren konnten. Dies erweiterte den Funktionsumfang des Programmes erheblich. Es wurde eine Anwender-Programm-Architektur geschaffen, bei der sich um die grundlegenden Funktionen des Hauptprogrammes „Quark-X-Press“ modular zahlreiche weiterer Funktionalitäten gruppieren konnten – je nachdem, für welchen Einsatzweck das Programm genutzt werden sollte. Diese Denkweise innerhalb der grafischen Anwender-Software wurde zum Erfolgsmodell. Der damalige Konkurrent „Aldus PageMaker“, der später von Adobe gekauft und in „Adobe PageMaker“ umgetauft wurde, schuf eigene „Additions“ und ging später in „Adobe InDesign“ über, das auch heute noch grundsätzlich eine ähnliche Strategie verfolgt. Inzwischen ist es allgemein Usus geworden, dass man sich bei Standard-Software Programm-Pakete zusammenstellt oder diese durch Zusatzprogrämmchen weiter auf seine Bedürfnisse zuschneidet. Die Individualisierung hat in die Welt der Software Einzug gehalten.

Apples „iPhone“ und Googles „Android“

Mit den Innovationen, die Apple’s „iPhone“ brachte und dem darauf folgenden Siegeszug erst der Smartphones dann der Tablet-Computer – also mit der flächendeckenden Einführung von mobilen Endgeräten, die PC-Funktionalitäten übernahmen – war die „App“ als neuer Standard etabliert. Dabei gibt es praktisch keine schwerfälligen „Groß“-Programme mehr, sondern viele kleine, deren Stärke in ihrer Übersichtlichkeit und Reduktion auf eine wesentliche Teilfunktion bzw. Spezialisierung liegt. Wenn man bedenkt, dass die Anzahl der zur Verfügung stehenden Apps auf der Apple-„iOS“- und der Google-„Android“-Plattform bereits in die Hunderttausende geht, wird klar, dass die Anzahl der Möglichkeiten schon jetzt durch ihre Unüberschaubarkeit nahezu unendlich erscheint. Zusätzlich durch die „Cloud“, die Programm-Funktionalitäten und Daten-Beständen über Internet-Server von jedem Ort der Welt abrufbar macht, wurde nicht nur die Anzahl der Möglichkeiten explosionsartig vergrößert sondern auch der feste Standort der Arbeit mit digitalen Daten aufgehoben. Vom Begriff des „digitalen Nomaden“ ist schon seit einer kleinen Ewigkeit die Rede, nun aber scheint das Zeitalter der „digitalen Mobilität“ tatsächlich angebrochen zu sein. Dabei kann man mit mobilen Devices surfen, schreiben, gestalten, bezahlen, fernsehgucken, radiohören und fast alles andere, das man bisher nur stationär am PC innerhalb von Büro oder Wohnung tun konnte oder aber per Laptop mobil noch relativ eingeschränkt. Grenzen sind hier nur durch die Hardware und die Bedienbarkeit gesetzt, speziell durch die geringe Größe des Bildschirms. Dies haben die Programm-Architekten aber durch eine intuitive Handhabung per Finger und beim Software-Design unter Konzentration auf das Wesentliche ausgeglichen. Das angestrebte Ziel ist nun vielmehr, dass der Anwender praktisch alles, was er für Arbeit und Privatleben – meist kommunikative Features – benötigt, überall erledigen kann. Dass er dabei universell erreichbar bleibt, dass sein Leben in sozialen Netzwerken äußerst transparent geworden ist, scheint ein notwendiges Übel, das jedoch die Voraussetzung für die Inanspruchnahme und Nutzung begehrter Features bietet, wie sie etwa der Location-Dienst „Foursquare“ beinhaltet, indem er Freunden, Bekannten und Geschäftspartnern per Handy-Ortung zeigt, wo man sich gerade befindet.

Geheimnisse der Welt als Kurzmitteilung

Ist die menschliche Wahrnehmung mit zu vielen Möglichkeiten konfrontiert, wird die Orientierung langwieriger und komplexer, leiden Klarheit und Übersichlichkeit. Wer sich in der alten, der übersichtlichen Welt, schon hier und da nur schwerlich für oder gegen etwas entscheiden konnte, hat es nun noch schwerer. Strategien, sich in einer unübersichtlichen Umgebung zurechtzufinden, beinhalten ein Mehr an „Try&Error“ und ein Mehr an experimentellem Handeln, das gar nicht mehr alle vorhandenen Alternativen und den damit zusammenhängenden potenziellen Erkenntnisgewinn mit einbeziehen kann. Anstatt dessen wird in der Reduktion der vorhandenen Komplexität eine Lösung gesucht. Einen solchen Ansatz verfolgen Konzepte wie „Twitter“: Gestattet ist hier nur noch Kurz- bzw. Ein-Satz-Kommunikation. Damit liegt die Hürde für Kommunikation tief, und damit wird die Komplexität so weit vereinfacht, dass auch tiefgreifende Aussagen auf einen Satz verdichtet werden. Twitter erscheint so wie eine Gegen-Reaktion auf philosophischen Tiefgang: Die Rätsel der Welt werden in einem (Verweis-)Satz gelöst.

Im Flüsterton: Das sprechende Smartphone

Und wie ändert sich dadurch das Weltbild der Menschheit? Das Smartphone spricht zu uns, permanent, auch ohne dass am anderen Ende der Leitung jemand ist. Es sagt: „Alles ist möglich. Alles, was Du Dir wünscht, geht in Erfüllung. Du kannst Menschen auf der ganzen Welt kennenlernen, Du kannst mit leuchtenden (oder erloschenen) Augen Deinen Kontostand sehen. Du kannst Dich von Deiner alten nutzlosen Liebe per SMS befreien und eine neue Beziehung per Voice-Mail klarmachen. Du kannst zeichnen und komponieren, radieren und mixen, Du kannst mit Fraktal-Editoren Teile der Welt in unterschiedlich detailreichen Darstellungen nachbilden, kannst deinen Blutdruck beobachten oder über einen Barcodescanner gucken wie giftig die Lebensmittel inzwischen geworden sind. Du kannst die Welt bannen, in Filmen oder auf Fotos, Du kannst kommunizieren.“ Aber was eigentlich kann man eigentlich so gar nicht? In all dem erkennen, was wirklich wichtig und wirklich richtig ist. Erkennt man beispielsweise im Augenblick der Anwendung, ob es sinnvoll ist, soviel Zeit mit den Funktionen des Smartphones zu verbringen? Oder ist dies am Ende reine Zeitverschwendung?

Die fünfte Dimension: Größenwahn

Das Weltbild jedenfalls wird um die Dimension des Größenwahns erweitert. Es geht auch um eine qualitative Verbesserung der Flucht-Möglichkeiten vor dem wirklich Wichtigen. Die Apps sagen uns: Alles ist sofort und vielleicht auch ohne Kosten, ohne Folgen und ohne Konsequenzen möglich. In einen Laden zu gehen und etwas einzustecken ohne zu bezahlen, wäre für jeden ersichtlich eindeutig „klauen“, lädt man jedoch einen Song im Internet herunter, ist das Bewußtsein ein anderes. Das scheinbar konsequenzenlose Tun kann zur unauffälligen Freizeitbeschäftigung werden, weil ich grenzenlose Möglichkeiten habe, mir etwas zu beschaffen. Das befriedigt Allmachts-Phantasien und läßt die reale Welt und ihre Begrenzungen, deren Einhaltung gesellschaftlich reglementiert und im Zweifelsfall sanktioniert wird, im Nebel zahlreicher Alternativen verschwimmen. Die digitale Welt ersetzt die reale durch scheinbar weniger Grenzen und durch ein Feuerwerk an Funktionalitäten, die die Erweiterung der eigenen menschlichen Fähigkeiten vorgaukeln. Der Unterschied ist zunächst quanitativ, weil die Anzahl an Kontaktmöglichkeiten, an Emails, SMS‘, Tweets und Postings, die der analogen Vergangenheit um ein Vielfaches übersteigt. Der alte, in der Wirklichkeit vorhandene Briefkasten beispielsweise war bezüglich seines Fassungsvermögens begrenzt und klar definiert: Irgendwann konnte er halt voll sein und nichts würde mehr reingepasst haben. Der neue als Email-Postfach-Version, fasst soviel Post, dass es gar keinen Sinn mehr macht. Oder man hatte früher nur wenige Freunde, nur ein paar, und von denen wußte man, dass sie tatsächlich gute Freunde sind. Heute ist um die Follower bei Twitter oder die Fans und Freunde bei Facebook ein Wettrennen entbrannt, weil viele Freunde gut für die Reputation sind, aber kein Mensch in der digitalen Welt mehr weiß, wer diese Freunde sind und ob man sie wirklich Freunde nennen sollte. Die neue Welt: Ein Fake.

Social Media: Möglichkeiten & Grenzen

Die Welt, die sich als ein Füllhorn unbegrenzter Möglichkeiten gebärdet, macht ein Versprechen, das ganze Generationen abstürzen lassen könnte, weil vielleicht nicht viel davon zu halten ist. So wie der Rock’n’Roll seiner Generation versprochen hatte, dass ein harter Bruch mit der Gesellschaft möglich ist, wie die Flower-Power-Zeit der 1960er Jahre versprochen hatte, dass sanfter Widerstand die Gesellschaft verändern wird, so verspricht die Welt der Technik all dies und noch viel mehr – aber nicht viel mehr als eine handvoll Firmengründer wird wirklich davon profitieren. Erst freuen sich zum Beispiel die nordafrikanischen Revolutionäre, dass ihnen Tools wie Twitter zur Verfügung stehen, damit sie sich über das Web zu Demonstrationen verabreden können. Dann müssen sie aber erkennnen, dass auch die Schergen der Diktatoren Tweets lesen und die Demonstranten mit Schlagstöcken am Ort der Versammlung erwarten. Diese und ähnliche Begebenheiten zeigen, dass die schöne neue Social-Media-App-Welt eine wenig beachtete Kehrseite hat, die noch kaum erschlossen ist.

Ein von der Technik unterstütztes Duell

Eine Voraussetzung für geistige Gesundheit ist die Konsistenz der Persönlichkeit. Das Individuum schwankt sein Leben lang auf der einen Seite zwischen dem, was es selbst über sich denkt und was sein soziales Umfeld in ihm sieht, und andererseits den Wünschen, viel mehr als das zu sein. Wenn nun der Wunsch, ein anderer zu sein, übermächtig wird und sich zu weit von dem entfernt, der man tatsächlich ist, wird es immer schwieriger, beide Bilder – Wunsch und Wirklichkeit – konsistent und deckungsgleich übereinander zu bringen. Eine Welt, die Omnipotenz-Phantasien Vorschub leistet, weil sie behauptet, dass alles möglich ist und alles sein könnte, beeinflußt das Selbstbild des Individuums. Das Selbstbild ergibt sich aber tatsächlich weder aus der Eigenwahrnehmung bzw. der Wahrnehmung und Spiegelung des sozialen Umfeldes noch aus der Überhöhung des Selbst, sondern sie ergibt sich quasi virtuell im Spannungsfeld zwischen beiden Polen. Sie ist also weder der defensiv-realistische noch der offensiv-imaginierende Pol sondern etwas Neues, Drittes dazwischen, eine Art Mischung zwischen Sein und Wollen. In dieser virtuellen Person, die das Selbstbild – und damit den Ausgangspunkt für die Motivation, Ziele zu erreichen, ­ enthält – müssen Realität und Wunsch in Einklang gebracht werden. Gelingt dies, bleibt die Persönlichkeit konsistent. Gelingt dies nicht, weil die tatsächlichen und die imaginierten Möglichkeiten zu stark divergieren, wird die Persönlichkeit deformiert. Welche Kräfte äußere Einflüsse auf das Selbstbild einer technoiden Generation ausüben können, hat der Zusammenbruch der so genannten „Dotcom-Blase“ im März 2000 gezeigt. Vorher waren Unternehmen der „New Economy“, die sich mit Web-Technologien beschäftigten, zu phantastischen Kursen an der Börse gehandelt und damit völlig realitätsfern bewertet worden. Die Bewerung einer Aktie an der Börse ist eine Wette auf deren Kursentwicklung, die aber auf Fakten zur Unternehmens-Entwicklung basieren sollte. Der Zusammenbruch des damaligen Marktes hatte nicht nur die Weltwirtschaft erschüttert sondern auch Zigtausenden vormals hochbezahlten und mit einem elitären Selbstbild ausgestatteten Arbeitskräften die Existenzgrundlage entzogen. Die Phase des manischen Größenwahns wurde gefolgt von wirtschaftlicher Depression.

Zu viele Möglichkeiten der Sichtbehinderung

Die Wahl zwischen zu vielen Möglichkeiten erschwert nicht nur die Orientierung zum Beispiel im Arbeitsleben, sie bringt auch Desorientierung für die Persönlichkeit. Scheinbar unendlich viele Smartphones mit ihren Millionen „Apps“ geben ein Versprechen, das das Individuum von seinen tatsächlichen Möglichkeiten entfremdet. Der Mensch findet zu sich, wenn er sich in einem übersichtlichen Entscheidungs-Umfeld der klaren Alternativen befindet. Werden die Angebote austauschbar und ihre Anzahl zu groß, sind menschliche Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit beeinträchtigt, werden Sinnhaftigkeit in der Entscheidungsfindung und auch im Leben behindert. Die Welt, so unergründlich sie tatsächlich ist, muß als Welt über ein Weltbild erfahrbar sein. Religion zum Beispiel erklärt die Welt in dem Bewußtsein, dass diese nicht erklärbar ist und übernimmt damit eine Funktion bei der Ausdeutung und Definition der Welt. In der Religion ist die Welt keine beliebige Option sondern ein klar umrissenes Konstrukt, das Sinn in der Sinnlosigkeit stiftet. Technik-Gläubigkeit hingegen ist im Kern der Glaube an die entpersonifizierte Übermenschlickeit, die sich im Wahn der Technik-Virtualität vollzieht. Sie stiftet nur Sinn in einer Schein-Welt, die letztlich keine Erklärung für das eigentliche Leben bietet.

Himmel & Hölle: Die ganze Welt im Smartphone

Die stark diversifizierte und atomisierte Modularität von Software durch den „App“-Wahn, der scheinbar für jedes denkbare Problem eine Lösung anbietet, sind ein Symbol für ein Streben nach Stück-für-Stück-Vollkommenheit in allen Bereichen. So entstehen virtuelle Realitäten, die ein echtes Welt-Verständnis behindern, sodass Selbstbild und Wirklichkeit des eigenen Seins immer weiter auseinanderstreben. Vielleicht wachen wir eines Tages alle als Milliarden kleiner Engel-Progrämmchen in einem Smartphone auf, mit dem Gott gerade den Teufel anruft.