Die Welt als Scheibe: Leben am platten Bildschirm

Virtuelle Welten schimmern-flimmern und verschlei-verschlimmern dabei das Leben

Ja, tatsächlich, fernab der Apps, der Add-Ons, fernab aller sozialen Netzwerke, von Facebook, Twitter und Google+, fernab aller neuen Widgets und Gadgets, der Tech- und Nerd-News gibt es tatsächlich eine reale Welt. Ich hatte sie nur gerade vergessen.

Sitze in meinem Wohnzimmer und blicke mich um: Ein länglicher, geschwungener Tisch, Regale, Bücher, eine Couch, 6 Stühle, ein paar kleine Figuren auf dem Fensterbrett. Der Tisch wird bei richtiger Pflege auch noch in 10 Jahren so aussehen wie jetzt. Die Couch ist ein Erbstück, vielleicht ein halbes Jahrhundert alt, wieder aufgemöbelt. Die Stühle, gefertigt aus schwerem Stahlrohl haben ein Jahrzehnt auf dem Buckel. Ich halte sie für unzerstörbar. Die Regale werden nicht so lange halten. Dann werden sie eben irgendwann ausgetauscht. Die Bücher, DVDs, Musik-CDs werden vielleicht auch im nächsten Regal Platz finden, sofern ich dann noch irgendwelche Medien außerhalb des Netzes nutzen werde.

Nerdesque: Unberechenbare Natürlichkeit

Alles von Menschenhand entworfen und unter Maschineneinsatz gefertigt. Es ist statisch, kann sich nicht verändern. Die totale Kontrollumgebung. Denn das ist der Unterschied zu draußen: In der künstlichen Umgebung einer Wohnung herrscht eine Atmosphäre, die ich ausgestalten und formen kann, so wie ich es will. Ich kann Gott spielen. In der Natur geht das nicht so einfach. Einen Garten zu haben, erfordert permanenten Einsatz, wenn ich ihn so haben will, wie mir das gefällt. Ansonsten wuchert und wächst es unkontrolliert. Der Rasen schwappt über die Einfassungen, die Bäume streben gen Himmel, Moose überwuchern Fliesen und Sträucher werden breiter und breiter. Rosen werden zu Hecken mit armdicken Stämmen. Disteln oder Löwenzahn durchsetzen die einstmals glatten Rasenflächen.

CyberWAN: Das Ende der Lebendigkeit

Das ist Wachstum, Veränderung, Chaos, kurz: Lebendigkeit. Und damit das simple das Gegenteil einer aufgeräumten und kontrolliert-betreuten Wohnung. Ein Kontrollwahn übrigens, dem auch jeder fröhnt, der den Großteil seiner Zeit am Computer zubringt und dort virtuelle Welten baut und erkundet. Der Computer und seine Scheinwelten sind die ideale Umgebung für Menschen, die bestimmen und beherrschen wollen, was sie umgibt. In einer lebendigen Wirklichkeit ist Kontrolle nicht möglich. Denn Kontrolle ist die Einschränkung von Aktivität, von Wachstum, sowohl physikalisch und auch ideell.

Schuldlose Opfer ausufernd-digitaler Kontrollmechanismen

Diese morbiden Gedanken im Kopf blicke ich auf die domestizierten Pflanzen in den Tontöpfen vor dem Wohnzimmer-Fenster. Tja, auch sie schuldlose Opfer meines Kontrollwahns. Ich laß’ sie lieber in Ruhe und gehe zurück an den Computer, tauche ein in eine Welt, die eigentlich viel mehr in meinem Kopf stattfindet als auf dem Schirm. Ich Cyber-Junkie sehe mir die Welt über die Video-Außenkamera auf meinem Bildschirm an. Da sehe ich viel zu viel unkontrollierbares Grün. Und Lebendigkeit kann sich nie am Bildschirm vollziehen. Ich habe Angst vor ihr. Der Bildschirm ist eine kugelsichere Trennscheibe zwischen der Lebendigkeit der Außenwelt und dem Todeshauch der Virtualität.