11.9.2001

Überall Symbole: Nachdem Al Quaida das Symbol „World Trade Center (WTC)“ zerstört hatte, zerstörten die USA Länder, die Menschenrechte und töteten im Gegenzug das Symbol Osama BIn Laden. Auch der 11. September 2001 ist mehr als ein simples Datum.

Es geht hier mal nicht um Terror, nicht um die Toten, nicht um die USA oder Bush, nicht um Ground Zero oder Al Quaida. Hier möchte ich nur über Zusammenhänge nachdenken. Ganz allgemein. Zusammenhänge, die auch zum 11.9.2001 geführt haben. Zusammenhänge, die von diesem Tag ausgehen und in die Zukunft weisen.

Die Chaos- oder die Wetter-Theorie haben eine alte Menschheitsahnung – dass nämlich alles, was geschieht, in einem Zusammenhang zueinander steht – in ein griffiges Bild gekleidet: Das des Schmetterlings-Flügelschlages, der ein ganz schwaches Lüftchen erzeugt, das sich in seiner Fortsetzung und im Zusammenwirken mit anderen kleinen Turbulenzen viel später zu einem Gewitter auswachsen könnte, gar zu einem Orkan. Die Chaosforschung ist jene Wissenschaft, die eigentlich angetreten war, um hochkomplex ablaufende und ineinander verschränkte Systeme wie das Wetter zu berechnen und damit vorhersagbarer und planbarer zu machen – um dann festzustellen, dass solche Systeme so viel Unberechenbares in sich tragen, dass ihr Chaos einfach nicht zu berechnen ist. Jeder weiß, dass es Ursache und Wirkung gibt und dass eine Tat Folgen hat. Aber niemand weiß, welche.

Überraschungsmoment: Die Unwahrscheinlichkeit des Anschlages

Ebenfalls als unberechenbar könnte man den 11. September ansehen. Al Quaida hat sich gefreut, dass der Anschlag geglückt ist. Die amerikanische Nation war geschockt, traurig, gedemütigt. Die Restwelt medial berieselt und gespalten. Bündnispartner sicherten ob der Wut der Amerikaner uneingeschränkte Unterstützung zu. Eigentlich alle einte nur eines: Die Überraschung darüber, dass es passiert ist. Selbst im Protzer-Video Osama Bin Ladens, in dem er vor seinen Leuten frohlockt, dass der Anschlag geklappt habe, schwingt eine Brise irrwitziger Unsicherheit mit, die man oft dann empfindet, wenn man zwar etwas herbeigesehnt hat aber noch nicht dran glauben konnte, dass es tatsächlich Wirklichkeit wird. Die Anschläge vom 11. September 2001 waren ein völlig unwahrscheinliches Ereignis. So sehr wie das World Trade Center mit seinen Twin Towers ein Über-Symbol für den Kapitalismus geworden war, so sehr war der Einschlag der beiden Flugzeuge in die Gebäude ein Supersymbol für den Widerstand gegen Amerika aus Sicht der Al Quaida.

Gaddafi, Mubarak und andere: Wie Unrecht Unrecht stützt

Warum hat sich überhaupt jemand über den Anschlag gefreut? Wohl aus Hilflosigkeit. Jahrzehntelang haben die Amerikaner z.B. in Südamerika oder im nahen Osten die schlimmsten Diktatoren unterstützt. Die Amerikaner haben deshalb in großen Teilen der Welt ein Negativ-Image geradezu als Inbegriff des Bösen. Unterstützt werden Diktatoren, um politische Stabilität zu gewährleisten. Eine Stabilität, die notwendig ist, um Länder wirtschaftlich aussaugen zu können. Afrika zuckt kaum noch, so lange wurde es seit der Kononialisierung ohne Unterlass wirtschaftlich und politisch gemolken und ausgeblutet. Im nahen Osten geht es um Öl, um Energie, die die ganze Welt antreibt. Gaddafi oder Mubarak waren alles andere als Demokraten, sie folterten, töteten, vergewaltigten – und dennoch wurden sie Jahrzehnte gestützt. Wer kann das mit ansehen ohne zynisch oder bitter zu werden vor soviel Unrecht? Oder militant.

Chaostheorie und Dominoeffekt: Tat und Handlung als Ausgangspunkt

Jenseits des anschaulichen Bildes des Schmetterlings-Flügelschlages kennt jeder sowieso den Dominoeffekt: Ein Stein fällt um und kann mit einer gewissen Unausweichlichkeit eine kaum überschaubare Zahl weiterer Steine mit umreissen. Wenn man beobachtet, wie der letzte fällt, weiß man schon lange nicht mehr, welcher der Stein des Anstoßes war. Und doch kann etwas, das lange zurückliegt – im Zusammenspiel mit anderen Ereignissen – viel auslösen. Oder auch nicht. Denn auch das weiß man: Ein Dominostein kann so fallen, dass er den nächsten dann doch nicht umreisst.

Militarismus als Schutz, Frieden als Schwäche

Kein Mensch kann voraussehen, was eine bestimmte Handlungsweise in der Zukunft bewirken wird. Millitaristen könnten argumentieren, dass Schwäche von anderen Staaten ausgenutzt werden kann: Wer das Gute wolle und eine starke Friedensbewegung in seinem Land wünsche, könnte dem militärisch aufgerüsteten Nachbarn Überübermorgen zum Opfer fallen. Man könne es eben nicht wissen.

Der Sinn der Grausamkeit: Generationsübergreifendes Lernen

Was man aber erahnen kann, ist, dass Nationen, die sich Jahrhunderte lang kriegerisch auseinandergesetzt haben – wie Europa in seiner langen Geschichte zum Beispiel auch – irgendwann lernen werden. Krieg und Terror sind ausweglose Situationen, die man nur durch Frieden am Ende eines Lernprozesses überwinden kann. Amerika hätte, so schmerzhaft es auch war, den 11. September nicht zum Anlaß nehmen müssen, neue Kriege zu führen oder die Menschenwürde in Guantanamo noch weiter herabzustufen. Amerika hätte, so paradox es angesichts des Terroranschlags klingen mag, positiv lernen können und damit die Endlosschleife aus Gewalt und Gegengewalt unterbrechen können.

Flügelschlag, Dominostein und Gewaltspirale

Wer 10 Jahre danach über die Bedeutung des 11. September 2001 nachdenken will, könnte sich ansehen, was ein Flügelschlag, ein Dominostein und eine Gewaltspirale gemeinsam haben. Sie können – einmal aktiviert – unweigerlich zu etwas die plumpe Gegenreaktion Überwindendem führen. Selbst ein (Friedens-)Gedanke ist ein Dominostein, der etwas auslösen wird. Vielleicht erst am 9.11.2211. Aber ist der Gedanke erst gedacht und dann ausgesprochen, ist ein Anfang gemacht.

Neben allem anderen ist der 11. September 2001 das Datum eines Anfangs. Ein Anfang wovon?