Wurzelwerk der Gesichter

Es waren an einem Ort, den man das Land der untergehenden Sonne nannte, zwei Bäume, die nun uralt geworden waren, älter als jeder Mensch, wohl älter als alle Generationen der Menschen, die dort jemals gelebt hatten, zusammen genommen. Jeder, dessen Familie eine Familienchronik führte, konnte sehen, dass die Bäume in fast jedem der Berichte der Generationen erwähnt worden waren.

Die Bäume waren nicht nur wegen ihres sagenhaften Alters berühmt geworden, nein, vor allem bildeten sie ein weit verzweigtes oberirdisches Wurzelwerk, wie man es noch nicht gesehen hatte. In der verwinkelten Verwurzelung konnte man Formen erahnen, die wie menschliche Gesichter wirkten, manche wie Tiere und Pflanzen. Es war, als wollten die Bäume in dem kunstvollen Geflecht ihrer Wurzeln eine Geschichte erzählen.

Die Bäume standen je am Rande zweier Städte, die am linken und rechten Ufer eines Flusses lagen, der den Bezirk durchzog. Verbunden waren diese Städte durch eine alte Handelsroute, die durch die Wildnis führte und durch den Fluss geteilt wurde.

Eines Tages kam diesen Weg eine Gruppe von Händlern entlang. Sie hatten die eine Stadt aufgesucht, dort den ersten der beiden Bäume bewundert, hatten den Fluß überquert und machten nun nicht weit entfernt vom zweiten Baum Rast. Die Sonne stand zu diesem Zeitpunkt tief, schien aber mit unveränderter Intensität, die die Reisenden blinzeln ließ. Die Händler waren nicht sesshaft und mit ihren Familien unterwegs. Ein kleiner Junge und ein Mädchen, die auf der strapaziösen Reise vieles gesehen und erkundet hatten, machten sich auf, die fantastischen Wurzelns auch dieses zweiten Baumes zu bewundern. Schon den ersten hatten sie in staunender Ehrfurcht betrachtet. Dem Jungen war der Anblick nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er hatte in der vergangenen Nacht viel davon geträumt, konnte sich an den Inhalt dieser Träume, die ebenso verworren schienen, wie das netzartige Wurzelwerk, aber nicht mehr erinnern.

Der Junge und das Mädchen standen nun also vor diesem zweiten Baum wie Ameisen vor einer Sonnenblume. So hoch ragte er empor, dass sie sein Ende am Himmel nicht mehr sehen konnten. Es schien, als verschwände er in den Wolken. Sie hockten sich auf die Wurzeln und das Mädchen fragte den Jungen, was er dort sähe. Der Junge sah ihr ins Gesicht, als sie die Frage gestellt hatte und hatte diese von ihren Lippen abgelesen. So blickte er in das dichte Netz der fantastischen Formen, sah in den durchschatteten Verschränkungen Köpfe, Körper, Figuren, sah immer mehr Gestalten, die sich zu bewegen schienen und ihn in ihrer Bewegung hinein in eine Geschichte zogen, die sich wie von selbst zu ergeben schien. Sein Blick versank tief im geheimnisvollen Wurzelreich. Aus den vielen kleinen Bildern, die er aufnahm, formten sich Worte und wie im Schlaf sprach er langsam Worte suchend, weil es ihm war, als würden die Wurzeln eine Geschichte preisgeben, die lange Zeit dort verborgen gelegen hatte. Es musste nur ein Kind kommen, um sie zu entdecken. Die beiden Kinder saßen dicht aneinander gedrängt und spürten die Wärme ihrer Körper. Der Junge sah in den tiefen Schatten des Geflechts zwei Menschen an weit voneinander entfernten Plätzen, die miteinander zu tun hatten, ohne es zu ahnen. So sprach er:

„Auf den zwei Seiten eines Flusses lebten zwei Einsiedler, ein Mann und eine Frau. Die Frau war blind und der Mann taub. Sie wussten nichts voneinander und lebten mehrere Tagesreisen voneinander entfernt. Ein ungewöhnlich lange währender Winter hatte das Land überzogen und es stand zu befürchten, dass er noch lange anhalten würde. So waren die beiden gezwungen, die Städte in ihrer Nähe aufzusuchen, um Vorräte einzukaufen. Nach einem entbehrungsreichen Weg angekommen, mussten sie aber feststellen, dass in den Städten die Hungersnot noch viel größer war als bei ihnen, die sie ihr Leben lang gelernt hatten, mit dem auszukommen, was die Natur ihnen gab. Sie waren bewandert in der Kunst der lange währenden Bevorratung, hatten Dörrfleisch und Trockenobst tief in der Erde gelagert. Doch sie mussten sicher gehen, nicht zu verhungern. Sie traten nach einiger Zeit, in der sie in den Städten Arbeiten verrichtet hatten, um mit dem Geld noch das Notwendigste zu Essen zu erstehen, den Rückweg an. Beide wollten damit die Stadt erreichen, in der jeweils der andere gewesen war, weil sie glaubten, dort mehr Lebensmittel bekommen zu können. Die Reise würde 4 oder 5 Tage dauern und es konnte gut sein, dass sie dabei ihr Leben verlieren würden.

So gingen sie los, schliefen ein paar Stunden, wanderten und wanderten, zehrten immer mehr ihrer Vorräte auf, trotzten der Kälte und trachteten am Ende des täglichen Marsches danach, wieder ihre Beine zu spüren. Sie banden sich Lappen um die halb erfrorenen Füße, steckten sie zurück in ihre Fellschuhe, rieben ihre Körper mit einem Balsam ein. Ihre Gesichter waren kaum mehr zu sehen unten den gewaltigen Fellmützen, die Nasen standen hervor wie rote Dornen, die Wangenknochen als wären sie aus hartem Holz. Ihre Münder waren ohne Lippen, als hätten die sich nach Innen zurückgezogen. Mit ihren eingerissenen Rändern sah jeder Mund aus wie ein dünner, dunkler Stachel-Zweig.

So trotzten sie dem unerbittlichen Winter auf der Suche nach Überleben. Immer krummer gingen sie, immer mehr der Erde zugeneigt, immer langsamer und kaum noch vorhanden in der Weitläufigkeit ihres Fellbesatzes. Aber ausgestattet mit dem zähen Überlebenswillen der Waldbewohner. Ihre Körper schmerzten, die Füße waren wund und geschwollen. Manchmal spürten sie die Kälte kaum noch, weil ihre Körper aus Schmerz bestanden. Ein andermal betäubte die Kälte den Schmerz. Vor allem ihre Gesichter waren wie taub und unter ihren Nasen hingen Eiszapfen, die sie von Zeit zu Zeit entfernten. Schließlich kamen sie an den Fluss und suchten, jeder auf seiner Seite, die Brücke. Es gab eine großzügig ausgelegte Brücke weiter südlich, die auch mit Gespannen befahrbar war. Diese wäre aber zu weit weg gewesen. Eine zweite Brücke über eine Verengung des Flusses befand sich nun in unmittelbarer Nähe. Dies war aber eine sehr schmale Fußgängerüberquerung aus Seilgeflecht, die immer nur eine Person auf einmal überqueren konnte. Sie hatte nur an einer Seite eine Festhaltemöglichkeit aus dicken Seil, an der anderen Seite war sie offen. Am besten überquerte man sie seitlich gehend und mit beiden Händen am Seil. Bei Sturm oder starkem Wind schwankte dieser Überweg bedenklich und sollte nicht betreten werden. Nicht nur, dass er nicht breit genug gewesen wäre, es wäre auch zu sich kreuzenden Schwingungen gekommen, betraten zwei Personen von den beiden Seiten die Behelfsbrücke gleichzeitig. Dies alleine war schon Gefahr genug, weil man kaum die Balance halten konnte, zumal wenn man noch etwas mit sich führte, wie es die beiden taten.

Die Frau und der Mann näherten sich fast zeitgleich am späten Abend dem Ort, nach dem die Brücke bald kommen musste, luden ihre Zelte und Decken von ihren Rücken und übernachteten dort. Am nächsten Tag erwachten sie mit dem Aufgehen einer strahlenden Sonne und packten ihre Habseligkeiten zusammen, um sich auf den Weg zur Brücke zu machen, hin zu jenen Städten, aus denen jeweils der andere gerade gekommen war. Für die Frau war der Weg wegen ihrer Blindheit viel beschwerlicher gewesen als für den Mann. Sie hatte unterwegs den Weg mit anderen Wanderern geteilt, die auch auf der Suche nach Nahrung aufgebrochen waren und sie ein Stück des Weges führten. Sie hatte aber darüber hinaus ein besonderes Gespür, sich zu orientieren. Doch lebte sie in ständiger Angst, eine hilfreiche Hand, die sie führte, könnte sie am Ende um ihre Habseligkeiten erleichtern oder ihr anderes Leid antun. Sie war zwei Tage vor dem Mann losgegangen und obwohl die Wegstrecke der beiden zu der Brücke fast gleich lang gewesen war, kamen sie zeitgleich an. Beide wanderten auf der breiten Handelsroute entlang und bogen dann zur Brücke eine weitere kleine Strecke ab.

Nun standen sie schließlich vor der Brücke, rasch würde es dunkel werden und die Brücke nun zu überqueren, hieß, nicht noch eine Nacht am Ufer warten zu müssen. Denn des Nachts hätte es keiner von beiden gewagt. Jeder von seiner Seite aus wollte das Seilgewirr betreten, das aber gar nicht zu sehen war. Die Brücke war lange Zeit von niemandem überquert worden, wohl, weil es den meisten Wanderern zu gefährlich erschien bei Wind und Wetter die vereisten Seile zu bezwingen. Sie hatten lieber den längeren Fußweg zur Hauptbrücke in Kauf genommen. Die Seilbrücke war vollständig zugeschneit und sah aus wie ein breiter Balken aus Schnee, den ein Riese quer über den Fluß gelegt haben mochte. Das geknüpfte Seilwerk war darunter nicht zu sehen. Der Mann betrat als erster den Übergang. Er schwang die Brücke am Anfang noch mit einem Bein auf dem sicheren Boden hin und her, um sie vom Schnee zu befreien. Doch der schwere Schnee war so vereist, dass er kaum abfiel. Am anderen Ende näherte sich die Frau, tastend, mit einer Hand das Seil berührend. Sie spürte die Vibrationen, hörte die Arbeit des Mannes am anderen Ufer. Auch sie suchte zunächst mit einem Bein Halt auf der Brücke.

Der Mann sah die Frau, rief ihr zu, sie solle weggehen, er wolle zuerst hinübergehen. Beide waren am Ende ihrer Kräfte, beide mehr dem Tod als dem Leben nah, ihr eiserner Wille klammerte sich an diese Brücke. Die Frau, außer sich vor Zorn, schrie zurück, er solle gehen, sie wolle zuerst die Überquerung wagen. Der Mann aber, der tote Ohren hatte, konnte sie nicht hören. So palaverten sie mit brüchigen leisen Stimmen vor sich hin, ohne sich wirklich zu verstehen, nur von dem Wunsch getrieben, so schnell wie es irgend ging das andere Ufer zu erreichen. Vernünftig wollte keiner sein, obwohl sie wussten, dass zwei Personen nicht aneinander vorbei kommen konnten auf dieser Brücke. Die Frau wedelte mit dem behandschuhten Händen, um den Schnee fortzufegen, große Brocken fielen ab und plumpsten in den reißenden Strom. Der Mann tat das seinige und so tasteten sie sich Schritt für Schritt vorwärts, während die Sonne unterging. Dabei warf der Mann der Frau hasserfüllte Blicke entgegen, drohte ihr mit erhobener Faust, war außer sich, was sie nicht sehen konnte. Und sie, die sein Näherkommen, sein Keuchen und seine Anstrengung hörte, schrie ihm wilde Beschimpfungen entgegen, die er wegen seiner totalen Taubheit nicht vernahm. Er solle nicht glauben, dass sie vor einem Mann weichen werde, brüllte sie.

Schließlich trafen sie in der Mitte der Brücke aufeinander. Der Mann schrie sie an, sie solle zurückweichen, sonst würde er sie hinunter werfen, was ihrem Tod gleichgekommen wäre, drohte ihr sogar nicht nur mit Worten sondern mit einer wilden Gebärdensprache. Die Frau schrie nach Leibeskräften zurück, sie werde ihn von der Brücke herunter stechen. In ihrer linken Hand hielt sie einen Haken zum Aufhängen von Fleisch, den sie mit sich führte. So prallten sie, kaum dass sie die Balance halten konnten, gegeneinander. Die Sonne war nun fast gänzlich untergegangen. Die Brücke kippte durch das Gewicht der beiden Menschen und ihr Gepäck hin und her und neigte sich immer wieder gefährlich hin zur offenen Seite. Beide kamen aus dem Gleichgewicht, fielen dabei um ein Haar ins Wasser. Zelt und Decken des Mannes lösten sich und verschwanden in den Fluten. Die Frau und der Mann hielten sich über dem Wasser an dem dicken Geländerstrick. Beide atmeten schwer und hatten den Tod vor Augen, sie kämpften noch einmal, schlingernd, ohne Kontrolle über ihre Körper, schrieen, stießen sich, außer sich vor Wut. Die Frau schlug den Haken um das dicke Führungsseil und stülpte den groben Lederriemen, der um ihren Körper verlief und die geschulterten Decken hielt, über das andere Ende des Hakens, so dass sie die Hände für einen Moment frei lassen konnte.

Sie drehte sich in Richtung des Mannes, ohne ihn sehen zu können, und sie ahnte, dass sie im Schicksal vereint schienen, sich hier auf der Brücke zu begegnen, auf der man sich im Winter eigentlich nie begegnete. Sie wußte auch, dass der Mann seine Decken und sein Zelt verloren hatte. Selbst wenn sie jetzt noch den Weg zurück finden würde, würde er nicht anders können als sie wegen ihres Zeugs umzubringen, um selbst überleben zu können. Da verging ihre Wut und wich der Angst zu sterben. Sie begann, während sie beide Halt suchten, auf ihn einzureden. Der Mann, der sie packen und von der Brücke schleudern wollte, sah ihre Decken und ihr Zelt und wusste, dass er diese haben musste, um am Leben zu bleiben. Er konnte sie also nicht einfach so hinunter werfen, zumal er auch das Messer in ihrer Hand sah. Er merkte an ihrem Gesichtsausdruck, der nicht mehr böse sondern flehend wirkte, dass die Frau mit ihm reden wollte, während sie hin- und herschlingerten. Aber er konnte sie nicht hören. Auch er spürte, dass sie jetzt Schicksalsgenossen geworden waren. Ihnen war klar, dass sie sich schnell entscheiden mussten, was zu tun war, sonst waren sie todgeweiht. Der Mann holte nach ihr aus, er spekulierte darauf, dass sie selbst wenn sie ohnmächtig war, sicher am Haken hängen würde. Doch der Schlag traf sie nicht richtig, weil die Brücke im eisigen Wind schlingerte. Sie spürte einen heftigen Schlag mit der Faust seitlich an der Stirn und stieß dem Mann ihr Messer reflexartig in den Körper. Er spürte einen stechenden Schmerz irgendwo in der Rippengegend und merkte, dass er blutete. Das Messer war stecken geblieben.

Die Frau ahnte, dass der Mann nichts mehr tun konnte, löste den Haken, stützte sich mit ihrem ganzen Körpergewicht auf den Mann, um an ihm vorbei zu gelangen und ertastete hinter ihm das Seil der Brücke. Dann schwang sie sich vorbei und hangelte sich langsam die Seilbrücke weiter, Schritt um Schritt vorsichtig in der inzwischen nahenden Dunkelheit. Während der Mann ächzend in der Mitte der Brücke verharrte, führte die Strömung unter ihm eine hellrote Färbung mit sich. Er kämpfte sich ebenfalls weiter und so landeten beide auf der entgegengesetzten Seite des Ufers, dort, wo sie auch hingewollt hatten. Er war verletzt und in der Gewissheit des nahenden Todes, wenn nicht durch die Kälte, dann durch den Blutverlust oder ein beschädigtes Organ. Sie war so schwach, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie hatte zudem ihr Messer verloren, das ihr im alltäglichen Überlebenskampf wichtige Dienste leistete. Es steckte im Körper des Mannes und schien damit verloren. So saßen sie fast regungslos jeder an seiner Seite vor der Brücke, keuchten, husteten und atmeten immer langsamer, bis sich der Rhythmus ihres Atems annäherte, ohne dass sie das ahnten. Und beide wurden nun sehr müde. Die Frau hatte auch ihren Wanderstock verloren, was es ihr erschweren würde, weiter gehen zu können.

Inzwischen war es stockduster geworden. Beide dachten darüber nach, was für eine sinnlose Verschwendung von Kraft es gewesen war, dass jeder von ihnen zuerst über die Brücke hatte gehen wollen. Sie konnten es sich nicht anders erklären, als dass die Angst um das nackte Überleben sie zur Missachtung des anderen geführt hatte. Hätte einer auf seiner Seite gewartet, hätten beide davon profitiert. Die Frau konnte nicht mehr weitergehen, sie war wie der Mann ausgezehrt gewesen und nun überanstrengt. Alles drehte sich vor ihren Augen. So machte sie sich schnell schwer atmend daran, das kleine Zelt aufzustellen. Sie wusste, dass der Mann nicht weiter konnte und morgen früh tot sein würde. Sie würde dann hinüber gehen, im Schnee nach ihm tasten und das Messer, das so wertvoll für sie war, an sich nehmen. Der Mann aber wollte sich nicht in sein Schicksal ergeben. Seine einzige Hoffnung auf ein Überleben war es, jetzt die Brücke zu überqueren, die Frau zu töten und ihr Zelt zu nehmen. Er hatte das Messer. Er zog es stumm und wie irr vor Schmerz aus der Wunde seitlich am Körper und legte ein kleines Tuch, das er in der Tasche gehabt hatte, auf die Wunde. Er nahm den Gürtel aus seiner Hose, legte ihn über Wunde und Tuch und zog ihn eng zusammen, damit das Tuch nicht verrutschte und der Blutfluss etwas gestoppt wurde. Dann kroch er zur Brücke, richtete sich dort auf und überquerte sie so, wie er gekommen war, Schritt für Schritt, in der Dunkelheit fast blind. Während er lautlos vorwärts ging, sah er, dass die Frau ein Stück weiter Feuer machte.

Es dauerte sehr lange, bis er die Brücke hinter sich lassen konnte. Die Frau zu töten war für ihn eine Notwendigkeit gewesen, je näher er ihr nun aber kam, desto weniger war er von dem Wunsch beseelt, es tatsächlich zu tun. Sie saß am Feuer, hatte die Kapuze gelöst. Die Flammen des Feuers schlugen nun hoch. Sie hatte Stöcke gesammelt, die nach und nach verbrannten. Der Mann stand nun nicht mehr weit von ihr. Zwischen ihnen war das Feuer und sie hatte ihn noch nicht gehört. Er war für einen Moment auf die Knie gesunken auf der anderen Seite des Feuers, spürte die Wärme. Er sah durch die Flammen hindurch in ihr Gesicht, konnte ein paar Strähnen ihres Haars sehen, und auch, dass sie blind war. Das verblüffte ihn. Auch, wenn sie ihn hätte sehen können, wäre sie ihm nicht mehr entkommen. Sie hätte alles zurück lassen müssen. Er erhob sich, ging leise auf sie zu. Hatte sie ihn gehört? Wegen des starken Räucherns des Feuers konnte sie ihn auch nicht riechen. Er hatte Mitleid mit ihr, sie war dünn wie er, ihr Gesicht von der Kälte gezeichnet. Sie hörte ein Knacken, das nicht vom Feuer her kam und streckte instinktiv ihren Arm danach aus und berührte ihn, der nun gebückt mit dem Messer in der Hand fast neben ihr kauerte, an der Wange. Sie hatte die Handschuhe ausgezogen und sich die Hände am Feuer gewärmt. Und als er nun diese Wärme an seiner Wange spürte, fielen all seine Wut und selbst sein eigennütziger Wille zu überleben, von ihm ab. Er nahm das Messer, fasste es an der Scheide und legte es in ihre Hand. Dann sackte er vor dem Feuer zusammen, atmete leise.

Auch die Wut der Frau war vergangen. Sie spürte das Messer in ihrer Hand und fühlte, dass er aufgegeben und sich mit seinem eigenen Tod abgefunden hatte. Und das, obwohl er nur einen Schritt davon entfernt gewesen war, sie zu töten. Die Frau wandte ihr Gesicht dem Feuer zu und spürte zum ersten Mal seit Tagen wieder Leben und Wärme in sich. Sie hielt das Messer fest in der Hand und taste nach dem Mann.

Als der Mann am nächsten Morgen aufgewacht war, spürte er zum ersten Mal seit langer Zeit keine Kälte. Das Feuer brannte, die Frau lag neben ihm, eng an ihn geschmiegt. Sie erwachte ebenfalls. Der Mann sagte ihr, dass er nichts hören könne. Sie setzte sich auf und hörte zu, wie er sprach. Er sagte, wo er hin wollte und sie schüttelte heftig den Kopf. Lange versuchten sie sich zu verständigen, bis beide begriffen hatten, dass es in beiden Städten nichts mehr zu holen gab und dass dort die Einwohner wohl auch langsam wegen Hunger und Krankheit dahinsiechten. Im Bezirk des Mannes gab es kaum mehr Tiere, die er hätte jagen können, den Rückweg nach dorthin anzutreten wäre ein sinnloses Unterfangen gewesen. Die Frau dachte nach und sprach, dass dies vielleicht bei ihr möglich wäre, sie aber nicht jagen könne. Sie hatte seine Wunde notdürftig versorgt. Es war ein tiefer Schnitt zwischen zwei Rippen gewesen. Ob er dies überleben würde, wussten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Er trug ihre Habseligkeiten und führte sie an der Hand als sie sich gemeinsam auf den Rückweg zu ihrem Haus machten. Er würde jagen und sie würden versuchen, den Winter dort gemeinsam zu überstehen.“

So beendete der Junge, der mit dem Mädchen auf dem Wurzelgeflecht saß, die Geschichte. Während er sie erzählt hatte, hatte er die Hand des Mädchen genommen und über bestimmte Teile der Wurzel geführt und dabei Hinweise gegeben wie „Dieser Wurzelteil sieht aus wie ein gebückter Mann auf einer Brücke“ und „Das hier wirkt wie ein Gesicht“. Das Mädchen hatte vorsichtig darüber gefühlt und die Formen nachvollzogen. Sie saßen noch etwas dort, bis es langsam dunkel wurde und redeten über die Wurzeln, die eigenartigen Bilder, die sich darin ergaben, und über die seltsame Geschichte. Dann nahm der Junge das Mädchen an der Hand und sie traten zusammen den Rückweg an.