Fotos: Paul Stenzel

Inmitten eines pfingstlichen Schönwettergebietes fand das 41. Moers Festival statt. Wieder, wie bisher, wie aber aufgrund des finanziellen Niedergangs der Stadt Moers kaum noch selbstverständlich, in Moers am Niederrhein.

Myanmar Meets Europe

Myanmar Meets Europe hinter goldenem Zaun

Wird der Jazz museal?

Jazzmusiker müssen sich als gefährdete Angehörige einer aussterbenden Spezies fühlen. Allenthalben gründen sie Vereine, die ihre Interessen durchsetzen sollen. Netzwerke werden aus dem Boden gestampft, um dem tumben Nachwuchs jene improvisierte Musik nahe zu bringen, die sich im Radio nur zu nachtschlafender Zeit mit den Zielvorgaben der Sender verträgt.

Es scheint, als müssten die Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage für Jazz-Musiker und -Hörer aufgehoben werden, um die letzten ihrer Art zu schützen.

Doch wohin mit ihnen? Museen werden sie nicht haben wollen, die halten ja nie still. Reservate sind die Lösung. Und ja, es gibt sie bereits. Jazz-Festivals, wie das North-Sea-Festival oder mehr noch die Leverkusener Jazz Tage, die unbesehen die ewigen Stars, die Top-Ten der Szene, artgerecht ausstellen. Das Moers-Festival versteht sich seit vier Jahrzehnten als dasjenige, dass das Lebendige im Jazz sucht, die Ränder abgrast. Das die Möglichkeiten auslotet. Das die Avantgarde einlädt, um einen Blick in ein musikalisches Utopia zu werfen, das sich so voraussichtlich nicht durchsetzen wird. Ein Festival der Entdeckungen.

African Dance Night in modern: Just A Band aus Nairobi, Kenia

Während die sich gegenseitig den schwarzen Peter zuschiebenden Politiker von Stadt und Land den Wert des Festivals anhand von vorhandenen oder nicht vorhandenen Geldresten in ihren herunter gewirtschafteten Haushalten bemessen, muss sich das Festival selbst an seinem eigenen Anspruch messen lassen.

Rainer Michalke, der künstlerische Leiter, tritt die Challenge, die Existenzberechtigung des Festivals zu beweisen, unter restriktiven Vorgaben an. Nur drei Tage sind verblieben. Für einen vierten reicht das Geld nicht. Michalke, der sich auf der Pressekonferenz von dem Moerser Bürgermeister Norbert Ballhaus als Realisten loben lassen muss, ohne dass dieser es hämisch meint, hat kreativ reagiert und aus dem vierten Tag etwas anderes gemacht. Den Helge Schneider Heimatabend. Weiterhin muss er wohl möglichst viele Leute aus der Nähe holen. Nur keine zu hohen Flugkosten riskieren. Doch mit den Leuten aus der Nähe beweist Michalke ein gutes Händchen. Schon The Dorf, die das Festival eröffnen, begeistern das Publikum.

Joana Aderi von Phall Fatale

Reisekostensparende Bands

The Dorf, eine große Formation, deren Mitglieder aus dem ganzen Ruhrgebiet kommen und die schon im letzen Jahr für Begeisterung sorgten, widmen ihr Konzert dem Anfang des Jahres verstorbenen Frank Köllges. Köllges war Trommler, Dirigent, Exzentriker. Für einen Drummer war er ein fantastischer „So tun als Ob Schlagzeuger“. Als Dirigent improvisierte er mit dem ganzen Orchester mittels verabredeter Gesten. Als Mensch einzigartig. The Dorf würdigen ihn, wie er es richtig gefunden hätte, mit eigenen Stücken in seinem Geiste, ohne ihn nachzumachen.

Ebenfalls ganz aus der Nähe, auch aus Deutschland, stammen Robert Landfermann und Jonas Burgwinkel, die mit Bass und Schlagzeug eine der selteneren Duo-Formationen ausprobierten. Auch wenn man glaubte, einen Hauch von Unsicherheit zu spüren, bewältigten sie die Strecke von einer knappen Stunde mit einem spanenden musikalischen Kurs.

Auch von Nahem, aus der Region Paris, stammen Radiation 10, die als mittelgroße Formation antraten. Radiation 10 versteht sich als gleichberechtigte Gruppe ohne Spezialisierungen in Komponisten oder Solisten. Die Rhythmusgruppe, bestehend aus Joachim Florend (Bass) und Emmanuel Scarpa (Schlagzeug), verlieh dem Konzert eine unverschämte Leichtigkeit durch einen Begleitstil, den man eher in einer kleinen Jazz-Kombo erwartet hätte.

 Kulturaustausch

Nah und Fern kombinierte das Projekt Myanmar meets Europe. Musiker aus dem ehemaligen Burma fusionierten mit Jazz-Musikern aus Deutschland, Frankreich und Italien. Die Anfänge des Projektes gehen auf eine Initiative von Tim Isfort zurück, dem Leiter der Traumzeit in Duisburg, in Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut. Das Traumzeit-Festival fällt in diesem Jahr mangels Finanzierung aus, und Moers bot dem Projekt eine neue Heimat. Die Klänge der Jazzer und des myanmarischen Hsaing Waing-Orchester verschmolzen zu einem eigenen, bewegenden Klangbild.

Manchen hätte es gefreut, die interessante Musik aus einem Land, das so lange vor der Welt verborgen lag, auch einmal ganz rein zu hören. Nach den Erfahrungen der letzen Traumzeit lässt sich sagen, das das myanmarische Orchester einen Auftritt vor Moerser Publikum durchaus auch alleine mit Bravur hätte bewältigen können.

Rau und eigensinnig: James "Blood" Ulmer

Ein Lebenszeichen

Wiederum näher an Moers fanden sich Phall Fatale, die Band des Schweizer Schlagzeugers Fredy Studer. Mit Joy Frempong und Joana Ader, jeweils Gesang und Elektronik, und den Bassisten John Edwards und Daniel Sailer eine weitere ungewöhnliche Kombo. Afrikanisches Geschichten-Erzählen und klassischer Jazz von Nina Simon gehen in einem eigenen Stil zwischen Hip Hop und Jazz auf. Die Bassisten beschränken sich nicht darauf, zu schauen, ob der jeweils andere auf seinem Basshals gerade rauf oder runter geht, sondern finden neue, ganz eigene Aufgaben in der Band. Ein Soundgefüge entsteht, dass man anhand der auf dem Papier stehenden Instrumentierung nicht erwarten konnte. Von allen Bands des Festivals sind es Phall Fatale, die am überzeugendsten vermitteln, der Jazz lebt und entwickelt sich frisch und zwanglos weiter.

Throat Singing

Aus der Ferne, musikalisch wie räumlich wie temperaturmässig, kam Tanya Tagaq. Eine Inuit aus dem arktischen Norden Kanadas, begleitet vom unorthodoxen Jesse Zubot an der Violine. Tanya Tagaq keucht und faucht archaisch mit Katajjaq, einem traditionellen, ausschließlich von Frauen ausgeübten Kehlkopfgesang. Sie verbindet Tradition mit Avantgarde zu einer archaischen Performance, die das Publikum spaltete. Nicht alle konnten sich auf die Reise in eine mystische Vorvergangenheit einlassen. Die, die es konnten, wurden Fans dieser aussergewöhnlichen Sängerin.

Kontrollierter Edel-Jazz

Ganz das Gegenteil dazu war der gediegene Jazz der Pianistin Carla Bley, die gleich zweimal auftrat. Zunächst im Trio mit dem Bassisten Steve Swallow, ihrem Lebenspartner, und dem Saxophonisten Andy Sheppard. Bley begleitet und improvisiert ungewohnt streng. Andy Sheppard nimmt die Strenge auf und kreist eng um die Themen. Steve Swallow bereichert durch seinen unglaublich lyrischen Ton, mit dem er gelegentlich kleine Seitenschritte aus dem Geschlossenen der Kompositionen hinauswagt.

Ein ganz anderes Kaliber ist ihr Projekt La Leçon Française, eine eigens für das Moers Festival geschriebene Komposition. Mit dem Klangkörper der Bohuslän Big Band und dem Knabenchor der Chorakademie Dortmund entwickelt sich eine gleichermassen humorvolle wie tiefgründige Programmmusik. Erzählt wird ein Tag Französischunterricht in einem englischen Knabeninternat mit den leidigen Wortwiederholungen und dem notwendigen Drill und der anschließende Freude der Sprachanwendung.

Ganz anders, härter, wilder, Unmengen Energie hinausspuckend sind „I Don’t Hear Nothin‘ But The Blues Trio“. Das Trio des New Yorker Saxofonist Jon Irabagon ist die energiegeladenste Band des Festivals.

Tanzmucke

Michalke hat die lobenswerte Tradition entwickelt, die Tage mit tanzbarer, dieses Jahr aber zweifelhaft ausgesuchter Musik zu beenden.

Den Freitag lassen Juan de Marcos Afro Cuban All Stars ausklingen. Die Big-Band spielt Museums-Musik im Stile der 40er und 50er Jahre. Modernisiert, wird behauptet, durch aktuellen Timba und Hip Hop. Für meine Ohren aber doch Tanzmusik aus der Zeit, als man noch brav auf Tanzschulen lernte, wie zu tanzen ist. Als die Damen noch Abendkleid trugen und die Herren sich ordentlich frisierten. Für heutige „moderne“ Hin-und-her-Hüpfer der falsche Rhythmus. Die Band feiert eine abgeschlossene Epoche disziplinierter Gesellschaftstänze der Vor-Rock’n’Roll-Ära und wirkt in Moers deplatziert.

Zeitgemässer spielen Lakecia Benjamin and Soul Sqaud am dritten Abend mit Soul im Stile von Maceo Parker auf. Eine tolle Band, die Live zu sehen jederzeit Spaß macht. Doch was hat sie in Moers zu suchen? Es muss doch irgendwo geilen, tanzbaren Jazz geben, der im Heute oder von mir aus auch im Morgen angesiedelt ist. Von mir aus auch elektronisch. Es muss doch verdammt nochmal irgendwo Tanzmucke im Geiste des Festivals auszugraben sein.

Defunkt: Joseph Bowie

Die Tanzband zwischen den beiden vorgenannten, am zweiten Abend, macht mich glücklich. Es spielen James „Blood“ Ulmer with Jo Bowie’s Defunkt n’EU Soul. Defunkt, die hier vor 11 Jahren schon als Defunkt Big Band für Furore gesorgt haben, grooven wie Sau. Jo Bowie, Defunkts Mastermind, bekennt sich, ein jahrelanger Fan des rauen und eigensinnigen Bluesgitarristen und -sängers James „Blood“ Ulmer zu sein und begleitet, nach der Präsentation eigener Stücke, den alten Herren aufs Vergnüglichste. Obwohl ältere Herren und Veteranen des Moers Festivals lassen sie keinen Augenblick Zweifel daran, Musik im Hier und Jetzt zu spielen.

Die Band meines persönlichen Erschreckens

Zu guter Letzt bleibt Rocket Science zu erwähnen. Geht man zu den Anfängen des Festivals zurück, egal ob in die 70er oder 80er, finden sich vielfältige Versuche, die Welt der Töne und Geräusche gegeneinander auszuloten. Bekanntlich besteht Musik aus Tönen, die durch Tonhöhe und -länge und -dynamik definiert sind und aus Geräuschen, wie sie z.B. aus Schlagzeugen kommen. Töne lassen sich in Tonleitern und Akkorden und so weiter strukturieren, Geräusche nicht. Viele haben ausprobiert, die Vorherrschaft der Töne zu brechen und die Welt der Geräusche zu entfalten. Oder die Töne zu Geräuschen umzuformen. Dieses umfangreiche Forschungsgebiet bescherte ganz unterschiedliche Ergebnisse. Konzerte konnten mal ganz schrecklich sein, mal emotional überwältigend oder auch faszinierend schön. Oft unerhört spannend. Diese langjährige und genaue Untersuchung der Töne und Geräusche hat die Welt der Musik bereichert und zu eigenen Klischees geführt. Und das Moers Festival stand gerne im Mittelpunkt dieser spannenden Entwicklung.

Peter Evans (Trompete), Evan Parker (Saxophone), Craig Taborn (Klavier, Keyboard) und Sam Pluta (Elektronik) musizieren ganz in diesem Sinne. Feinsinnig und konzentriert bauen sie Spannung auf. Anfänglich, wie mir scheint, mithilfe der Verwendung eines Haufens Klischees. Doch sie finden zusammen und haben etwas zu sagen, etwas zu entdecken.

Nach dem zweiten Stück merke ich, dass ich nostalgische Gefühle bekomme. Das ist ja wie früher. Ich erschrecke über mich selbst und fliege sofort raus. Raus aus der Musik, raus aus der Spannung. Ich verschliesse mich der Musik, bin auf der Meta-Ebene gelandet und höre nur noch wirre Töne und Geräusche.

Wie kann es sein, dass ich auf dem Avantgarde-Festival am Niederrhein nostalgische Gefühle bekomme? Da stimmt doch etwas mit dem Festival nicht. Natürlich ist das ein Konzert wie für mich gemacht. Doch gerade das ist ein Widerspruch.

Epochen

Jeder Musikstil wird anfänglich aus einem anderen entwickelt, erreicht seinen Höhepunkt und gilt schließlich als abgeschlossene Epoche, wenn die Neuerer sich anderen Stilen zugewandt haben. Barock, Klassik, Romantik. Auch im Jazz gibt es zahlreiche abgeschlossene Epochen: Dixie, Swing, Modern Jazz, Fusion und viele andere. Wenn eine musikalische Epoche abgeschlossen ist, weiß man genau, wie diese Musik zu spielen ist. Man kann heute Barockmusik so komponieren, dass sie klingt, wie Barockmusik zu klingen hat, ohne die Irrwege der Erfinder zu gehen. Man kann heute auch neue Fusion-Bands sehen, die haargenau wissen, wie Fusion zu klingen hat.

Radiation 10: Benjamin Flament und Bruno Ruder

Doch so wie heute ein Komponist von Musik im Stile des Barock nicht als Barockmusiker bezeichnet wird, sondern als Nachahmer müssten es sich auch Jazz-Musiker gefallen lassen, als Nachahmer des Modern Jazz oder des Fusion zu gelten. Als Musiker, die so tun, als seien die Jazz-Musiker. Auch wenn sie es strenggenommen nicht sein können. Aber Publikum und Musiker tu allenthalben so, als handele es sich bei den Nachahmungen um zeitgenössische Musik.

Das Moers Festival war immer ein Jazz Festival. Und es war ein Festival der Avantgarde. Unvorstellbar, hier Musik einer abgeschlossenen Epoche vorzufinden. Tote Museumsmusik. Doch genau das dünkte mir bei diesem Konzert von Rocket Science. Es muss die Frage gestellt werden, ob dass was hier auf der Bühne passiert, das, was in den Morning und Night Sessions passiert, olle Kamellen sind. Free-Jazz in historischer Aufführungspraxis.

Mir gefällt es ja, doch bin ich ein Veteran des Festivals. Ein Dinosaurier. Freigeistig und strukturkonservativ in Einem. Die Frage, die Frage der Fragen, die hier zu stellen ist, ist folgende:

Ist der Jazz als Gattung insgesamt eine abgeschlossene Epoche?

Bands wie Phall Fatale scheinen diese Befürchtung für einen kurzen Augenblick zu widerlegen. Scheinen den Epochenabschluss noch einen Moment in die Zukunft zu verschieben. Doch gemessen an der dargebotenen Menge Musik, die mir, dem Dinosaurier bequem ist, muss sich das Festival fragen, ob es noch Up to Date ist.

Evan Parker von Rocket Science

Erstarrt das Festival zu einem Nostalgie-Museum für historischen Sparten-Jazz?

Es scheint mir, als hätte das Festival irgendwann in den vergangenen Jahren – vielleicht damals bei der Tilgung des Wortes Jazz aus dem Festivalnamen – an einer Weggabelung gestanden und den falschen Pfad gewählt. Es sollte nicht so sehr am Jazz kleben, den ich über alles liebe; es sollte verdammt nochmal keine Rücksicht mehr auf Veteranen wie mich und unsere konservativen Erwartungen nehmen. Will das Festival seinen Ruf als Festival der Avantgarde rechtfertigen, muss Rainer Michalke mutiger werden. Alte Zöpfe abschneiden. Weniger nett, weniger kompromissbereit sein. Wenn schon nicht monetär, dann doch wenigstens musikalisch.

Es wäre bitter für mich, nicht mehr zu meinem Lieblingsfestival zu passen. Doch noch bitterer wäre der schleichende Verfall eines Festivals, das bisher zu den schönsten weltweit zählt.