doppelkirsche_wasselowskiKunst kann nicht exakt definiert oder auch nur beschrieben werden, weil Kunst nicht nur aus der Perspektive ihres Schöpfers erklärbar ist, sondern die Wahrnehmung des Betrachters und die Wirkung auf ihn als andere Perspektive mit einbezogen werden müssen.

Da aber die Wahrnehmungen und die Ausdeutung der Inhalte für jeden einzelnen Rezipienten darüber entscheidet, ob für ihn überhaupt ein Werk Kunst ist, sind Kunst und ihre Wirkung auch relativ zum Betrachter zu sehen.

Kunst als Bedeutungs-Container

Kunst ist ein Bedeutungsträger, und Bedeutungen haben für jeden Menschen eine andere Wertigkeit, bzw. ein und dasselbe Werk kann in der einen Wahrnehmung eine Bedeutung entfalten und in der anderen Wahrnehmung unbedeutend sein. Für den einen kann das Werk profan, nichtssagend und damit irrelevant sein, für den anderen ist die Wahrnehmung aussagekräftig und relevant im Sinne einer Kommunikation, die zwischen dem Werk und dem eigenen Wahrnehmungshorizont stattfindet.

Kunst als Sprache

Dabei mag es zwei Ausgangspunkte für die Definition von Kunst geben. Zum einen kann Kunst als eine Sprache angesehen werden. Kunst weist über das Vordergründige, das Offensichtliche und Oberflächliche hinaus. Wenn Andy Warhol in einem Pop-Art-Bild eine Büchse mit Bohnen zeigt, sagt er damit aus, dass in seinen Augen etwas Alltägliches Kunst sein kann, was im Alltag so selbstverständlich geworden ist, dass es gar nicht mehr wahrgenommen wird. Dann geht nicht mehr nur um die Bohnendose. Die Dose ist im positiven Sinne wie ein trojanisches Pferd, das die Wahrnehmung aufschließt und den Betrachter über weitere Bedeutungen nachdenken lässt.

Kunst als Alltagsgegenstand

Bei diesem Beispiel ist allerdings der Rezeptionshintergrund entscheidend. Historisch betrachtet war zu jener Zeit, als Pop Art entstand, für den Laien Kunst etwas nicht Alltägliches, unter Umständen etwas Bedeutungsschweres. Die Aussage des Bildes ist also: „Kunst kann auch etwas sein, das ihr nicht erwartet habt. Etwas ganz Herkömmliches.“ Außerdem hat Warhol in seinen Siebdrucken die Motive oft vierfach abgebildet und damit auf den Produktionsprozess und die Reproduzierbarkeit des Motives verwiesen. Er hat den Begriff der Kunst damit einmal mehr vom Sockel der Ehrwürdigkeit gestoßen.

Kunst als Form und Inhalt

Wer so einen Bedeutungsinhalt transportiert, spricht zum Betrachter. Kunst, das wäre zusammengefasst ein erster möglicher Ausgangspunkt, ist eine Sprache, die nicht aus Worten bestehen muss, sondern auch aus Formen, Bildern, Tönen, Objekten oder Gegenständen. Wenn ein Bild eines Künstlers wie ein Satz wäre, wäre sein ganzes Werk wie ein Roman, der aus verschiedenen Inhalten und Formen besteht.

Kunst als Leidenschaft

Andererseits, wenn man den Ansatz von Josef Beuys aufgreift „Jeder Mensch ist ein Künstler“, der eine politische Aussage hin zu mehr Aktivität war, entsteht die Frage: Was ist der Unterschied zwischen einem standardisierten lieblos industriell gefertigten Küchenschrank und einem von Hand liebevoll gefertigten? Die Leidenschaft. Das ist die zweite Überlegung: Kunst als Ergebnis leidenschaftlicher Gestaltung. Demnach könnte theoretisch ein mit großer Leidenschaft aufgebautes Unternehmen wie Steve Job’s Apple ein Gesamtkunstwerk sein oder der leidenschaftlich von Hand geschreinerte Küchenschrank oder das leidenschaftlich komponierte Lied.

Kunst als Ambition und Anspruch

Denn viele Formen unterscheiden sich qualitativ dadurch, wie ambitioniert derjenige, der das Werk schafft,  sich dort hinein begibt oder sogar hineinsteigert, wieviel und welche Energie er aufwendet, um seine Aussage zu treffen und wieviel Anspruch er hineinlegt. Das wird besonders deutlich bei Kommunikationsformen, die mit dem traditionellen Kunstbegriff nichts zu tun haben. Wie zum Beispiel die Werbung. Werbung ist von ihren Wurzeln her etwas, das man für das Gegenteil von Kunst halten könnte: Eine schnöde Austragsarbeit, zweckgebunden, eingesetzt zur Erfüllung der Aufgaben, die der Auftraggeber definiert hat. Keinerlei Selbstverwirklichung des Künstlers, kein sich darin Verlieren. Ein Beispiel:

Kunst als Kommerz

Vergleicht man Selma Hajek’s Auftritt für Campari zum Beispiel mit Edvard Munch’s „Der Schrei“, ist der Unterschied zwischen der kommerziellen Absicht auf der einen Seite und der expressive Ausdruck auf der Seite Munchs augenfällig. Und doch enthält das Werbevideo über die Aussage hinaus, die den Auftraggeber und sein Produkt betrifft, weitere Inhalte und Bedeutungsebenen. Da der Spot völlig ohne Worte auskommt und 30 Sekunden lang nur mit Bildern und Musik arbeitet, ist der Vergleich mit bildhafter absichtsloser Kommunikation einfacher.

Kunst als Werbung

Das Klacken der Schuhe gibt einen Rhythmus vor, der mit der musikalischen Untermalung korrespondiert. Bedeutung: Eine Frau, die weiß, was sie will. Den Anreizen, denen sie an den einzelnen Zimmertüren ausgesetzt ist, widersteht sie. Bedeutung: Sie ist eine anspruchsvolle Frau. Die Gesamtsituation einer Frau, die sich in einem abstrahiert-surrealen Umfeld bewegt, ist postmodern-augenzwinkernd überhöht. Die Perfektion, mit der dieser Spot verdichtet und dennoch rezipierbar gedreht ist, legt Ambitionen der Werbefilmer nahe. Man vergleiche dies mit diesem Spot (zweiter Spot bei Timecode 0:30) der eine ähnliche Herangehensweise hat und dabei Medium und kommunikaive Situation am Schluß noch witzig bricht.

Kunst als Auftragsarbeit

Allerdings waren viele Werke in der Historie jener Kunst, die man gemäß eines traditionellen Kunstbegriffes, der noch mehr mit Handwerk zu tun hatte, definierte, wie zum Beispiel Michelangelos Arbeiten für die Sixtinische Kapelle, Auftragsarbeiten – zweckgebunden und inhaltlich vorgegeben. Auch die klassische Kunstform „Portrait-Malerei“ in Form eines Gemäldes, bei der ein Auftraggeber gemalt oder in späteren Zeiten fotografiert wurde, vollzieht sich in einem Spannungsfeld zwischen der Sichtweise des Künstlers und der Erwartungshaltung des zu Portraitierenden.

Kunst als serieller Produktionsablauf

Wenn Andy Warhol zum ersten Mal eine Berühmtheit fotografiert und daraus einen Siebdruck schafft, dann bringt er damit etwas Neues. Das könnte oberflächlich betrachtet und ganz allgemein gesprochen Kunst sein. Wenn er dies als Dienstleistung anbietet und danach tausendfach Menschen fotografiert und nach immer demselben Schema abbildet, ist das dann noch Kunst oder nicht etwa Gebrauchsgrafik? Wenn ein Rezipient irgendeines dieser Bilder betrachtet und davon gelangweilt ist, weil er es hundertfach schon vorher in anderen Varianten gesehen hat, dann kann aber ein anderer Betrachter in diesem einen Portrait dennoch etwas sehen. Es kann spannend für ihn sein. Es kann für ihn mehr sein, als beispielsweise nur die Abbildung von Elisabeth Taylor. Es kann Assoziationen erzeugen und die Stimmung des Betrachters verändern. Das Bild kann wichtig für einen einzelnen Betrachter sein, zur genau gleichen Zeit aber völlig unwichtig für einen anderen.

Kunst als Wahrnehmungskonfrontation

Damit verschiebt sich die Antwort auf die Frage, ob dies Kunst sei, in Richtung der Wahrnehmung durch den Betrachter. Der Urheber des Werkes schafft etwas, das eine Bedeutung für ihn hat und findet eine Form, die vielschichtig sein soll, die also Bedeutungsinhalte anreichert, verschiebt, bricht und damit unter Umständen einen Rezipienten dazu einlädt, diese Wahrnehmung zu teilen, zu hinterfragen oder zu verwerfen. Das wäre Kunst als Austausch von Wahrnehmungen oder Kunst als Kommunikation über Wirklichkeit – denn die Auseinandersetzung über Wahrnehmungen ist nichts anderes als eine Diskussion über das Wesen der Realität.

Kunst als kommunikative Vereinbarung

Die Definition von Kunst ist deshalb so schwierig und wenig exakt greifbar, weil an Wahrnehmungen gekoppelte Bedeutungen individuell sind. Die Frage „Was ist Kunst?“ müsste deshalb umformuliert werden in „Welche Form, die über sich selbst hinausweist, bedeutet vielen Rezipienten etwas und definiert sich darüber allgemein anerkannt als Kunst?“

Weitere Kunsttagebücher:

  1. Als die Nacht aus dem Blickwinkel des Tages unterbelichtet wirkte
  2. Warum Eitelkeit zur Kunst gehört und doch ihr Untergang ist
  3. Ziellosigkeit als Grundlage assoziativer Prozesse
  4. Kopfkino oder zeigen und weglassen im anspruchsvollen Film
  5. Warum die Größe einer Zeichnung ihre Aussage verändert
  6. Wann Form ein Inhalt sein kann
  7. Was könnte das sein?
  8. Gedanken-Gefühls-Bilder innerhalb einer Formgenese
  9. Die Welt ist voller Möglichkeiten oder Zufall und Entscheidung in der Kunst
  10. Über das „Zuviel“
  11. Wiederholung als Formoptimierungs-Prozess
  12. Der assoziationsoffene Raum
  13. Kunst und technisch-handwerkliches Können: Warum es besser ist, nichts zu können
  14. Methoden der Kunst: Durch Wegnehmen und Hinzufügen Bedeutungen erschaffen
  15. Der Kunsst
  16. Was ist Kunst?
  17. Künstler-Selbstbild: Skizze eines zufallsgesteuerten Lebens ohne anarchistische Romantik
  18. Beliebigkeit als Kunstprinzip: Über die vermeintliche Sinnlosigkeit assoziativer Folgerichtigkeit
  19. Langlauf oder Kurzstrecke? Das Intervall in der Kunst
  20. Der Künstler: Ein Assoziationsautomat
  21. Zeichnen und die Macht des Zufalls
  22. Vorhersehbarkeit und Offensichtlichkeit – über die Langeweile in der Kunst
  23. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  24. Hinz- und Kurzgeschichte: Als der Unterhaltungskünstler den ernsthaften Künstler traf
  25. Über die metaphorische Schwangerschaft der Bilder
  26. Über das Vorläufige und das Endgültige in der Kunst
  27. Warum Kunst ein Virus ist
  28. Kreieren und wiederholen: Warum Kunst nicht kreativ ist
  29. Das Unverwechselbare in der Kunst als Ausdruck der eigenen Unfähigkeit
  30. Das Ungefähre als das nicht Greifbare
  31. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  32. Der blinde Fleck und die Kunst der Betrachtung
  33. Kompetenz und Versagen als sich selbst bedingende Gleichzeitigkeit
  34. Kunst als Selbstdialog
  35. Ordnung und Chaos als Polaritätskonzept künstlerischen Wirkens
  36. Die Überforderung
  37. Eindeutigkeit und Wahrnehmung in der Kunst
  38. Kunst als Sprache
  39. Der Mangel als Ansporn
  40. Bedeutung und Orientierung als Ziele der Kunst
  41. Selbstbild und Seins-Inszenierung
  42. Kunst als Chiffre der Notwendigkeit
  43. Kunst als fortgesetzter Traum
  44. Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!?
  45. Die Maslow-Bedürfnis-Pyramide oder fühlen und durchleben in der Kunst
  46. Jenseits der Worte
  47. Wahrheit und Verdrängung
  48. Das Gefühl für die Dinge oder von der Schwierigkeit, Kunst zu definieren
  49. Zwischen Selbsttransformation und Fremdwahrnehmung
  50. Die Absolutheit der Ich-Perspektive
  51. Fehler machen als „Sesam-öffne-dich“
  52. Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen
  53. Jede Regel will gebrochen sein
  54. Die Intrinsik als Wesenszug