Teufelsenkel

Hast du dich schon mal gefragt, wie gewisse Ideen überhaupt entstehen können? Manchmal höre ich in Bezug auf abgedrehte Ideen jemanden sagen: „Darauf wäre ich nie gekommen“ oder: „Wie bist du da drauf gekommen?“ Manchen Gedankengebäuden haftet imagemässig etwas Genialisches an. Obwohl… obwohl sie das gar nicht sind. Sie sind nur als eine Art Prozess ohne Ziel zu verstehen.

Dessen beharrliches Zuendedenken unter Einbeziehung einer assoziativen Folgerichtigkeit oder auch Zwangsläufigkeit, bei der ein Gedanke unweigerlich den nächsten ergeben muss, hat eine Idee entstehen lassen, die unvorhersehbar und weit hergeholt erscheinen mag. Obwohl sie nur das unvermeidlich unausweichliche Ergebnis eines assoziativen Denk-/Fühlprozesses war.

Der Kunst-Prozess: Unordnung und Ordung als Aufeinanderfolge

Auch Theorien oder literarische Werke entwickeln sich von einer simplen Grundidee ausgehend assoziativ im Schreiben. Das Ergebnis ist deshalb zufälliger oder beliebiger, als es den Anschein hat. Eine stringente Folgerichtigkeit ist zwar durchaus typisch als Ergebnis eines Denkprozesses. Dennoch hätte sich das Schreib-Ergebnis befindlichkeitsabhängig auch ins Gegenteil verkehren können. Zumal grosse Anteile am Schreib-, Mal- oder Zeichenprozess in ihrer Genese nicht rational nachvollziehbar sind, sondern einem fraktal-entrophischen Chaos entstammen. Einem Chaos jedoch, das in aller ungeordneten Verschränktheit möglicher Ideenansätze dennoch Ordnungsprinzipien folgen muss, die man aber erst dann erkennen könnte, hätte man mehrere chaotische Zyklen nachvollzogen und dabei erst dann ihre Ähnlichkeiten erkannt. Dann würde sich – die Redewendung gewordene – Methode des spezifisch chaotischen Prozesses offenbaren: „Das Chaos hat Methode“. Ein Prozess der Unodnung, dessen Ergebnis ein sogenannter kreativer Gedanke oder Impuls ist, der auf das Chaos letztlich strukturierend einwirkt, wird nach dem Siedepunkt der Unberechenbarkeit in kühle Ordnung kanalisiert.

Chaos als ordnendes Künstler-Ritual

Die im Chaos versteckten Ordnungsprinzipien sind wie ein Ritual des Künstlers anzusehen. Der Künstler will dem scheinbaren Nichts eine Ausdrucksform entlocken. Diese steht zwar in Bezug zu ihm und seiner spezifischen Wahrnehmung, letztlich ist sie aber im Augenblick der Entstehung ein beliebiges Zufallsprodukt. So wie sich auf der subatomaren Ebene scheinbar chaotische Muster ergeben, die sich aber in einer Matrix der Selbstähnlichkeit einerseits hochgradig geordnet und andererseits unberechenbar zufällig organisieren – weshalb die Quantenmechanik von Aufenthaltswahscheinlichkeiten in Bezug auf Teilchen spricht –, so sind die Elemente im Œuvre eines Künstlers ebenfalls Zufallswerke und doch in ihrer Autorenschaft ihm zuzuodnen, weil sie Prinzipien der Selbstähnlichkeit folgen.

Die absichtslose Folgerichtigkeit

Der künstlerische Prozess der assoziativen Folgerichtigkeit zeitigt gemäß der eingeschränkten menschlichen Wahrnehmung ein beliebig-zufälliges Ergebnis. Insofern es solchen Maßgaben nicht folgen würde, wäre es ein rationalistisches Werk, das tendenziell eher dem Bereich der absichtsvollen Auftragsarbeit zuzuordnen wäre, und es würde sich so also von der Absichtslosigkeit, die der Kunst inne wohnt, entfernen.

Kunst: Nicht funktional, nicht zweckorientiert, nicht absichtlich

Allerdings ist Beliebigkeit nicht mit „Bedeutungslosigkeit“ gleichzusetzen. In der Beliebigkeit liegt die absichtslose Absicht des Künstlers versteckt, seine Gefühlen zu einer formalen Haltung zu verdichten, die einen Inhalt transportiert. Dabei sollte man nicht der Vordergründigkeit erliegen, ein Bild, das seinen Inhalt schnell zugänglich und eindeutig offenbart, wäre die gelungenere Umsetzung. In der Beliebigkeit ist die Unkalkulierbarkeit der informationellen Basis der Vermittlungsebene enthalten. Kunst, die unverständlich erscheint oder wenig zugänglich, muss nicht bedeutungslos sein. Vielmehr kann ihre Bedeutung verdeckt-verschränkt sein und sich erst in der Auseinandersetzung erschließen. Einem Schöpfer von Kunst muss nicht bewusst sein, was er mit seinem Werk aussagen will. Kunst ist im Gegensatz zu Handwerk oder Kunsthandwerk nicht funktional oder zweckorientiert zu sehen. In dem Maße, in dem sie es doch ist, verringert sich ihr künstlerischer Gehalt.

Eine die Bedeutungs-Inhalte relativierende Kunst

Allerdings gibt es eine moderne Kunst, die ich nicht „postmodern“ nennen will, sondern „Sekundärkunst“. Deren Wesen ist es, grundlegend und durchaus absichtsvoll die Relevanz von Bedeutungen in Frage zu stellen und in Zweifel zu ziehen. Sie fußt in der öffentlichen Wahrnehmung in der Popart und erklärt (mediale) Massenphänomene zu Kunst. Sie hat damit einen wahrnehmungstechnischen Bedeutungskurzschluss bei vielen Rezipienten erzeugt, der inhaltliche Relevanz nivelliert. Es ist die Frage, welche Bedeutung sie hat und wie ernst man sie nimmt. Relativierende Kunst hat einen eher rationalen Ansatz, kommt also schwerpunktmässig aus dem Denken, nicht aus dem Fühlen. Man mag Namen wie Andy Warhol oder Jeff Koons damit in Verbindung bringen. Am Ende des Rezeptionsprozesses dieser Kunst mag das „Nichts“ stehen oder ein sich bezüglich seiner Aussagen ständig drehendes „Alles-oder-Nichts“.

Weitere Kunsttagebücher:

  1. Was ist Kunst? Und warum nicht?
  2. Als die Nacht aus dem Blickwinkel des Tages unterbelichtet wirkte
  3. Warum Eitelkeit zur Kunst gehört und doch ihr Untergang ist
  4. Ziellosigkeit als Grundlage assoziativer Prozesse
  5. Kopfkino oder zeigen und weglassen im anspruchsvollen Film
  6. Warum die Größe einer Zeichnung ihre Aussage verändert
  7. Wann Form ein Inhalt sein kann
  8. Was könnte das sein?
  9. Gedanken-Gefühls-Bilder innerhalb einer Formgenese
  10. Die Welt ist voller Möglichkeiten oder Zufall und Entscheidung in der Kunst
  11. Über das „Zuviel“
  12. Wiederholung als Formoptimierungs-Prozess
  13. Der assoziationsoffene Raum
  14. Kunst und technisch-handwerkliches Können: Warum es besser ist, nichts zu können
  15. Methoden der Kunst: Durch Wegnehmen und Hinzufügen Bedeutungen erschaffen
  16. Der Kunsst
  17. Was ist Kunst?
  18. Künstler-Selbstbild: Skizze eines zufallsgesteuerten Lebens ohne anarchistische Romantik
  19. Langlauf oder Kurzstrecke? Das Intervall in der Kunst
  20. Der Künstler: Ein Assoziationsautomat
  21. Zeichnen und die Macht des Zufalls
  22. Vorhersehbarkeit und Offensichtlichkeit – über die Langeweile in der Kunst
  23. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  24. Hinz- und Kurzgeschichte: Als der Unterhaltungskünstler den ernsthaften Künstler traf
  25. Über die metaphorische Schwangerschaft der Bilder
  26. Über das Vorläufige und das Endgültige in der Kunst
  27. Warum Kunst ein Virus ist
  28. Kreieren und wiederholen: Warum Kunst nicht kreativ ist
  29. Das Unverwechselbare in der Kunst als Ausdruck der eigenen Unfähigkeit
  30. Das Ungefähre als das nicht Greifbare
  31. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  32. Der blinde Fleck und die Kunst der Betrachtung
  33. Kompetenz und Versagen als sich selbst bedingende Gleichzeitigkeit
  34. Kunst als Selbstdialog
  35. Ordnung und Chaos als Polaritätskonzept künstlerischen Wirkens
  36. Die Überforderung
  37. Eindeutigkeit und Wahrnehmung in der Kunst
  38. Kunst als Sprache
  39. Der Mangel als Ansporn
  40. Bedeutung und Orientierung als Ziele der Kunst
  41. Selbstbild und Seins-Inszenierung
  42. Kunst als Chiffre der Notwendigkeit
  43. Kunst als fortgesetzter Traum
  44. Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!?
  45. Die Maslow-Bedürfnis-Pyramide oder fühlen und durchleben in der Kunst
  46. Jenseits der Worte
  47. Wahrheit und Verdrängung
  48. Das Gefühl für die Dinge oder von der Schwierigkeit, Kunst zu definieren
  49. Zwischen Selbsttransformation und Fremdwahrnehmung
  50. Die Absolutheit der Ich-Perspektive
  51. Fehler machen als „Sesam-öffne-dich“
  52. Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen
  53. Jede Regel will gebrochen sein
  54. Die Intrinsik als Wesenszug