Der bleiche König

Wer träumt nicht von einem Leben ohne Autoritäten und einschränkende Strukturen? Das Ziel dieses uneingeschränkten, unreglementierten Lebens könnte „Freiheit“ lauten, um eine größtmögliche Selbstverwirklichung erreichen zu können. Absolute Selbstverwirklichung könnte zu „wahrer“ Kunst führen oder zumindest die Voraussetzung für Kunst sein: ihr Nährboden.

Dabei strebt eigentlich jede Struktur nach Selbstorganisation. Aber selbst bei der demokratischen Selbstorganisation einer Gesellschaft geht es sehr wohl um harte Machtprinzipien und Darwinismus à la „Survival of the Fittest“. Soll heißen: Stärke setzt sich auch politisch durch. Das klingt nicht nach Freiheit, eher nach strampeln um die Macht.

Lob der Repression

Aber auf Einschränkungen folgen widerborstige Ideen, die als Contra-Position oder als Widerstand zu verstehen sind oder auch als eine Art Fluchtvehikel dienen könnten. Aus der Unfreiheit entstehen Gedanken und Ideen der Freiheit. Größtmögliche Normalität führt zwangsläufig zu Irrsinn, fortwährender Realismus zu Surrealismus.

Der Zufall als kreativer Urknall

Einem Künstler könnte zweierlei wichtig sein: Ein Künstlerleben zu führen und/oder Kunstwerke zu schaffen. Beides, das Werk und das Leben, sind zusammenhängende Ausdrucksformen. Wobei das Vorhersehbare, das Geregelte und Vorherbestimmte keinen Raum lässt für Neues. Denn wirklich Neues bewegt sich ausserhalb von Regelwerken und Normierungen. Deshalb kann Ideenreichtum nur auf der Grundlage des Zufalls gedeihen. Denn der ist nicht planbar.

Ein Fundamental-Oppositioneller

Ein Leben, in dem das Unvorhersehbare in Form des Zufalls eine Rolle spielt, ist ein Leben, das relativ gesehen die größte Ideenfreiheit bietet. Diese Freiheit jedoch ist nicht Anarchismus im politischen Sinne. Der müsste erst verdient sein. Der Künstler als Fundamentaloppositioneller, der als Aussenstehender der Gesellschaft den Spiegel vorhält, muss ein Aussenseiter sein, sonst kann er seine Funktion nicht ausfüllen. Ansonsten wäre er Erfüllungsgehilfe überkommener Wahrnehmungsschemata, die aber natürlicherweise sein Feind sein müssten.

Durchschnittlichkeit großer Kunst

Aber selbst das ist kein Anarchismus, sondern antisoziales Verhalten, gruppennonkonformes Verhalten, das sich trotz aller Opposition nach einer Rolle in der Gesellschaft sehnt. Und sofern das nicht zutrifft, gibt es aber eine Sehnsucht des Künstlers nach Wahrnehmung und Beachtung durch die Gesellschaft. Denn das Ausserordentliche, das Extravagante und nie Gesehene erhält seinen Wert erst in Relation zur Normalität. Grosse Kunst wäre ohne den Durchschnitt nicht denkbar. Und gäbe es unglaublich viele großartige Kunst, wäre diese Großartigkeit plötzlich Durchschnitt.

Spleeny Gonzalez

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