Herzfrucht

Das Mädchen war unstet und zart wie eine Daunenfeder im Wind. Es sah sehr viel, viel mehr als man sehen sollte, reagierte überempfindlich auf vieles, was einem im Leben passieren kann. Aber es hatte einen sanften Vater, der versuchte, das schlimmste von ihr abzuwenden.

Als das Mädchen heranwuchs und sein Vater alt wurde, suchte es einen Jungen, der sie beschützen und ihr so die Angst nehmen sollte. Es sollte ein furchloser Mann sein, einer, der vor rein gar nichts Angst hatte. Denn nur ein absolut furchtloser Mann konnte ihre Angst, die übermächtig war, aushalten.

Bald traf sie einen solchen Jungen. Wenn er sie in den Arm nahm, sah sie ihn an und spürte, wie stark er war. Lag sie bei ihm, musste sie manch Erdrückendes ihrer schlimmen Gefühle endlich nicht mehr spüren, weil sie sich geborgen fühlte. Er war ein Junge, der zu einem unerschrockenen Mann heranwachsen sollte. So unerschrocken war er, dass er auch bei ihr nichts spüren konnte, keine Einsamkeit, keine Nöte, keine Ängste. Ihre Empfindsamkeit hatte er durch Unempfindsamkeit auszugleichen.

Das Mädchen lag mit ihrem Mann im Bett und schmiege sich an ihn. Sie lächelte dabei, weil er vor Kraft nur so strotzte. Er sah sie an und sprach: „Ich will ein behütendes Zudeck für dich sein. Wenn du bei mir liegst und dir ist kalt, umhülle und wärme ich dich. Wenn dir warm ist, kühle ich dich. Und wenn du Angst hast, schmiege ich mich ganz eng an dich, sodass du dich nicht mehr alleine fühlst.“

Das Mädchen hatte gerade in diesem Augenblick Angst und sagte zu dem Zudeck: „Umschließe mich schnell ganz eng, damit ich mich besser fühle.“ Das Zudeck wand sich um sie. So eng, dass das Mädchen plötzlich Angst bekam. „Hinfort“, sagte es zu dem Zudeck, „du erdrückst mich“. Dann wurde dem Mädchen plötzlich sehr kalt und es sagte zu dem Zudeck: „Wärme mich“. Das Zudeck legte sich doppelt über das Mädchen und dem wurde wohlig warm. Doch nach kurzer Zeit bildete sich an einer Stelle ein Luftloch, durch das kalte Luft an ihre Beine gelangte. „Meine Beine sind kalt“, sagte das Mädchen. Die Decke zog sich um ihre Beine zusammen, doch nun fror ihr die Schulter. Die Decke legte sich schnell um ihre Schulter, doch da froren ihre Hände. Als die Decke die Hände bedeckte, fror sie am Hals. Da schlang sich die Decke um ihren Hals, fest, sehr fest. „Du nimmst mir die Luft zum Atmen“, rief das Mädchen, „ich fürchte mich vor dir. Willst du mich umbringen?“ Die Decke wurde ungeduldig, wollte sich entziehen. Da nahm das Mädchen die Decke, rollte sich widerwillig in sie ein und verbrachte so klaglos die Nacht.

Am nächsten Morgen fror sie dennoch und war nicht zufrieden. Das Mädchen war alleine aufgewacht. Der Platz neben ihr war leer. Ihr Mann war wieder weg. Er, der vor nichts Angst hatte, hatte auch keine Angst davor, sie allein zu lassen.