Schreitreise
Ein Stapel Bilder. Das erste Bild zeigt einen Mann auf einem Dachboden. Er ist der Enkel eines der letzten Universalgelehrten. Er sitzt dort auf diesem mit dunklen Holz getäfelten Dachboden und kramt Papiere aus Holzkoffern und -Kisten hervor.

Auf dem zweiten Bild hält er eine Patenturkunde in die Kamera. Es ist eine von vielen, die sich auf dem Tisch daneben stapeln. Neben ihm steht ein Mann. Es ist der viel jüngere Bruder seines verstorbenen Vaters. Beide haben die Münder offen. Sie scheinen angeregt miteinander zu reden.

Ein Brief des Bruders an seine Frau. Darin steht, dass Gavin, der Junge auf den beiden Bildern, eine Zeitmaschine gebaut hat.

Ein zweiter Brief, 40 Jahre danach. Nur wenige Zeilen. Der Junge soll durch die Zeit gereist sein. Er ist in der Vergangenheit verschwunden, in einem Zustand völliger Alterslosigkeit.

Dann ein Tagebuch. Der Junge berichtet von seiner Reise. Er war aufgebrochen, um Dinge zu ändern, Schicksale von Menschen positiv zu beeinflussen. Er schreibt er davon, dass er einem Apotheker helfen wollte, der drogensüchtig und später daran gestorben war. Er wollte dessen Schicksal verändern und positiv beeinflussen, indem er den Apotheker in Kindheit und Jugendzeit vor Schicksalsschlägen, deren Eintreffen der Zeitreisende kannte, bewahrt hatte.

Den Schmerz über den Unfalltod des Kindes konnte er dem Apotheker ersparen, sogar dass seine Frau ihn als Spätfolge des Verlustes infolge dessen hätte verlassen haben würde. Als er wieder in die Zukunft gereist war, um zu sehen, wie es dem Apotheker ergangen war, musste er jedoch feststellen, dass der Apotheker trotzdem drogenabhängig geworden war. Er hatte sich um seine Tochter, die seine Frau und er spät bekommen hatten, aufopferungsvoll gekümmert, hatte seinen Beruf vernachlässigt, bis sein Besitz zwangsversteigert werden musste. Seine Frau hatte sich bald darauf trotzdem von ihm getrennt und die geliebte Tochter mitgenommen. Sie hatte einen neuen Mann, der sich rührend um die Tochter gekümmert hatte. Die Familie, die der Apotheker mit seiner Frau und Tochter hätte sein können, die gab es nun woanders – und der Apotheker blieb zurück, allein, in Selbstmitleid ertrinkend. Er vereinsamte und wurde obdachlos. Er trank und trank, sein Bart wuchs, er wusch sich nicht mehr, verlotterte und schlief immer öfter dort ein, wo er gerade saß. Der Apotheker starb in einem Winter neben einer Parkbank. Während er unter einer Schneewehe erfroren lag, hatte sich ein Liebespärchen für eine kurze Zeit auf der Parkbank geküsst und war dann in der Dunkelheit weitergegangen. Er wurde erst Tage später bei Tauwetter gefunden. In seiner Tasche fand man ein paar abgewetzte Fotos, die mit einem Gummiring zusammengehalten wurden. Sie zeigten vor allem seine Tochter aber auch seine Frau, seine Tochter und ihn auf Familienbildern aus den glücklichen Tagen der Geburt der Tochter.

All dies – das vorherige Leben des Apothekers ohne die Zeitmanipulation und das geänderte durch die Zeitmanipulation – konnte der Zeitreisende sehen, zumal wie im Zeitraffer. Allein die eine Änderung des Zeitablaufes und ihre Auswirkungen oder Unveränderbarkeiten belasteten den Zeitreisenden sehr und stürzten ihn in innere Konflikte, die ihn traurig machten. Es war schwer für einen Menschen, menschliche Schicksale zu begleiten und sie durch die Zeit zu verfolgen.

Der Zeitreisende kehrte immer wieder zurück in die Vergangenheit, um dem Apotheker zu helfen. Doch musste er feststellen, dass er dadurch, dass er die Vergangenheit geändert hatte, er nicht etwa die vorherigen Ereignisse in der Gegenwart, von der aus er aufgebrochen war, aufgehoben und gelöscht hatte, sondern er hatte mit der neuen Vergangenheit eine neue Realitätsebene geschaffen, die parallel zu der existierte, die er kannte. Und als er den Kindstod der Tochter verhindert hatte und mit ansehen hatte müssen, dass der Apotheker trotzdem kein schönes Leben hatte und er deshalb nochmal in die von ihm bereits geänderte Realitätsebene zurückgekehrt war, um erneute Änderungen der Ereignisse herbeizuführen, war ihm bereits aufgefallen, dass er durch diese erneute kleine Änderung nicht nur wieder eine neue Realitätsebene geschaffen hatte, sondern eine Realitätsebene, deren Ausgangspunkt eine andere bereits geänderte Zeitebene war. Die komplexe Technik der Zeitnavigation bereitete es dem Zeitreisenden zunehmend große Schwierigkeiten, jene doppelt veränderte Zeitebene erneut zu erreichen.

Der Zeitreisende, der das Schicksal hatte herausfordern wollen, war aber nicht etwa zweimal zurückgekehrt, sondern hatte binnen kurzem hunderte Male multipel unterverzweigte Realitäten geschaffen, bei denen er den Überblick verloren hatte und die er zum Teil gar nicht mehr für eine erneute Korrektur erreichen konnte. Die Nichterreichbarkeit aber hatte zur Folge, dass er manche Neurealitäten für Zeitkorrekturen noch einmal leicht variiert schuf, sodass von zahlreichen durch ihn erzeugten Realitäten, die Variationen der ursprünglichen Hauptrealität waren, weitere Unter- und Unter-Unter-Realitäten entstanden. Am Ende waren Unübersichtlichkeit und enthropisches Chaos im Wirrwarr tausender neuer Wirklichkeiten derart ausgeprägt, dass er nichts mehr sehen oder erreichen konnte. Das Konzept der Zeitreise hatte sich selbst ad absurdum geführt. Transparenz und Durchschaubarkeit der Zeitstrukturen waren in einem Zeitstrudel untergegangen.

Dort, wo er Einblicke in Veränderbarkeiten von Lebensläufen gewonnen hatte, kam er zu dem Schluss, dass die Wechselwirkung eines bestimmten menschlichen Charakters mit seinem Umfeld äusserst robust erschien. Es war kaum möglich, den Ausgang eines negativen menschlichen Schicksals in etwas Positives zu verwandeln. Geschah dies aber doch, ging damit eine völlige Unkontrollierbarkeit der nachfolgenden Ereignisse und damit des Endergebnisses einher. So konnte eine gut gemeinte Änderung katastrophale Folgen haben.

Der Zeitreisende hatte auf seinen Fahrten vieles gesehen und wurde mit fortschreitender Zeit, obwohl er durch seine Reisetätigkeit nicht alterte, zusehends ernster und nachdenklicher. Denn er hatte gesehen, dass es möglich war, alternative Realitäten in beliebiger Anzahl zu erschaffen. Wenn dies aber möglich war, musste das Konzept der Realität oder anders gesagt: die Realität der Realität grundsätzlich überdacht werden.

Die Realität als vom Menschen wahrnehmbar Einmaliges erwies sich als kleiner Ausschnitt theoretisch unendlich vieler Realitäten, also lediglich als eine einzelne zu vernachlässigende Variante davon. War seine Beeinflussung der Zeit nicht eine Veränderung im eigentlichen Sinne, sondern lediglich ein Hervorholen und Präferieren einer anderen Parallelität, ein Einkopieren bzw. die Duplizierung von Ereignissen von einem Realitätsstrang in den anderen? Das Faktum allein, dass man Ereignisse verändern konnte, wies darauf hin, das Varianten unserer Realität möglich waren und so auch unabhängig vom Wirken des Zeitreisenden vorhanden sein könnten.

Ob dieser Einsichten in die unendlichen Möglichkeiten unendlich vielfältig denkbarer Realitäten beendete der Zeitreisende seine Zeitreisen und zerstörte seine Zeitmaschine.

Am Ende eine handschriftliche Notiz: Ich weiß, dass ich nichts weiß – und das unendlich oft mal.