Wortkontemplation

Göte sah sich als Bauer. Er säte und erntete unkontrolliert zeitversetzt. Säen war für ihn, neugierig zu sein, in die Welt zu blicken, mit Menschen zu reden und sie zu beobachten. Ernten bedeutete, täglich seltsame Geschichten zu schreiben. So automatisch wie er atmete, sich bewegte und liebte, so wie von selbst kamen Geschichten aus ihm heraus, die er aufschrieb.

Es waren jeden Tag so viele, dass er schon in jungen Jahren nicht mehr alle aufschreiben konnte. Deshalb war er dazu übergegangen, sie nur noch in wenigen Worten zu skizzieren. Aber auch das hätte noch zu lange gedauert. So fing er an zu zeichnen, anstatt Geschichten zu schreiben. Seine skizzierten Zeichnungen gingen schneller und wenn er eine Zeichnung betrachtete, erinnerte er sich an eine dahinter verborgene Geschichte. Seine Zeichnungen waren komplexe Zeichen, die nur er verstand.

So schrieb er jeden Tag nur noch ein oder zwei Geschichten und fertigte anstatt dessen mehrere Zeichnungen an, insgesamt tausende jedes Jahr. Er stapelte sie in einem kleinen Zimmer, Stapel für Stapel in Kartons vom Boden bis zur Decke, vom Boden bis zur Decke – bis in dem Zimmer kein Platz mehr war. Also räumte er sein Ankleidezimmer aus, schob die Möbel und Einrichtungsgegenstände nach draußen und stapelte dort weiter.

Seine Geschichten wurden Jahre später in einem Buch gedruckt, das sein Publikum fand. Der Verlag trat an ihn heran und bat ihn, zeitnah weitere Geschichten zu liefern, um das Eisen zu schmieden solange es heiß war. Göte wollte aber nichts nehmen, was es schon geschrieben hatte. Er wollte neue Geschichten, erwachsene, reife Geschichten. Denn er hatte geschrieben seit er sieben Jahre alt gewesen war und er wollte diese alten Geschichten nicht noch einmal lesen.

Doch der Verlag wusste um die beiden Zimmer mit dem unvorstellbar großen Schatz an Geschichten und rief ihn eins ums andere Mal an: ob er nicht einfach seine Kartons mit den Geschichten schicken könne, ein Lektor würde sie sich eingehend angucken und nur Material auswählen, dass die Veröffentlichung Wert wäre.

Der Verlag betonte, dass er ein hoffnungsvoller Newcomer sei, dass man schnell ein zweites Buch nachlegen müsse. Man sparte nicht mit Lob und es wurden ihm täglich ausschließlich positive Rezensionen seines ersten Buches in Kopie zugeschickt, um ihm vor Augen zu führen, wie sehr das nächste Buch erwartet würde und wie notwendig es war, dass er schnell handelte.

Doch Göte war ein unzugänglicher Mensch. Anerkennung, Zuspruch und Geld waren ihm gleichgültig. Er wollte neue Geschichten schreiben, aktuelle Geschichten veröffentlichen, obwohl die Themen seiner Geschichten immer dieselben waren und keinerlei Aktualität aufwiesen.

Göte war an diesem Montag von einer Pressekonferenz gekommen, die ihm der Verlag aufgedrängt hatte, und er war unzufrieden. Er hatte die Fragen der Journalisten in dickem <mantel mit hochgeschlagenen Kragen, mit Handschuhen und großer Sonnenbrille bekleidet als nichts sagend und zeitraubend empfunden, weshalb er nicht wirklich etwas Informatives zu sagen gehabt hatte.

Danach war er wie immer ziellos und nach etwas suchend, von dem er nicht wusste, was es sein könnte, durch die Stadt geschlendert. Er empfand nicht etwa Neugier wie sonst, sondern eine Art lähmende Langeweile. Er setzte sich in einem Straßencafé an einen kleinen Tisch und blickte in die Bäuche und Beine der sich in unmittelbarer Nähe vorbeiwälzenden Menschenmenge. Dann lehnte er sich zurück und sah in den Himmel. Und alles, was er gesehen hatte, waren Bäuche und Beine und der Himmel und nichts mehr dazu fiel ihm ein. Alles war weg. Es war, als sei der Strom an Bildern und Ideen, der ständig seinen Kopf durchfloss, in seinem Kopf versiegt war. Es wollten keine Geschichten mehr kommen. Er saß da wie ausgewrungen, ausgeleert, betäubt und tot. Das war der erste Tag in seinem Leben, an den er sich erinnern konnte, an dem ihm keine seiner Geschichten eingefallen war. Göte’s Faust sauste vor Wut zweimal nieder auf den Tisch, an dem er saß, wobei der zweite Teil heftiger war als der erste.

Göte zahlte, schlenderte anschließend in die Stadt, ging beim Verlag vorbei, holte sich einen Vorschuß auf das zweite Buch, kaufte davon einen Aktenvernichter und transportierte ihn im Bus nach Hause. Er stieg zuhause angekommen mit dem Aktenvernichter hoch in die beiden Zimmer mit den alten Geschichten.