Gut zu sein, kann böse endenWenn man sich umsieht in der Welt, dann sieht man, dass vieles falsch läuft. Das Falsche in der Welt zu beseitigen, liefe auf eine organisatorisch-kybernetische Aufgabenstellung hinaus, also auf eine, bei der es darum ginge, Regelkreise für die Korrektur von Problemen zu entwerfen, bis die Prozesse optimiert und die Aufgaben gelöst sind.

Die entwaffnende Simplizität des Gut/Böse-Weltbildes

Doch wir bewerten negative Ereignisse nicht absolut sondern bezüglich ihrer Relevanz für unser Leben. Wir emotionalisieren und versubjektivieren Geschehnisse. Wir beschuldigen und verurteilen. Bei der Einschätzung von egoistischem Verhalten, das die Gemeinschaft schädigt, liegt es nahe, dies zu tun. Doch letztlich bilden sich aus der Sicht des Verurteilers zwei Gruppen: Die, die Recht hat, und die, die Unrecht hat. Ein Beispiel: Ein Konzern wie Monsanto manipuliert Erbgut von Maispflanzen, lässt sich dieses Verfahren patentieren, bringt Bauern unter Umständen in eine finanzielle Abhängigkeit vom Saatgut und durchwirkt mit Insektiziden deren Böden, auf denen auf absehbare Zeit nur noch das gegen die Insektizide resitente weil genetisch veränderte Monsanto-Saatgut wächst. Gegen diese Geschäftspraktik zu sein, ist nicht schwer. So wird man im eigenen Selbstbild zum besseren Menschen. Der andere ist ein schlechter Mensch. So weit, so klar.

Selbstbild und Selbstprogrammierung

Wie verschöbe sich das Selbstbild, wäre man Mitarbeiter bei Monsanto? Der eigene Lebensunterhalt wäre an den Erfolg des Unternehmens gekoppelt. Einige wenige Mitarbeiter könnten ihre Arbeit unter Umständen moralisch nicht rechtfertigen und würden gehen, das bliebe aber die Minderheit. Was ist mit denen, die weiterhin dort arbeiten? Mit einem Selbstbild als schlechtem Menschen läßt es sich auf Dauer nicht gut leben, also wird man die Arbeit bei Monsanto in einem Prozess der Selbstsuggestion vor sich selbst rechtfertigen. Man wird grundlegend darauf verweisen, dass man Dinge tue, die das Gesetz erlaube. Was könne daran falsch sein? Daran zu glauben, dass es schlecht ist, was man tut, und womit man sein Geld verdient, wäre aus dieser Perspektive nur schwer aufrechtzuerhalten.

Von Gut zu Böse: Der Gang durch die Institutionen

Treiben wir das Modell kontrastierend auf die Spitze: Wäre man im Extremfall zuerst ein Monsanto-Kritiker und würde dann die Seiten wechseln und von Monsanto seinen monatlichen Lohn erhalten, wäre die argumentative Fallhöhe sich selbst gegenüber extremer. Der bessere Mensch, der man vorher war und der Monsanto-Mitarbeiter früher als schlechte Menschen hätte bezeichnen können, erscheint in der Selbstwahrnehmung vermutlich dennoch nicht schlechter als vorher. Joschka Fischer, der in jungen Jahren militanten Widerstand gegen die etablierte Politik geleistet hatte, ist schließlich Außenminister der Bundesrepublik Deutschland und damit staatstragend geworden – und beides Mal hat er sein Handeln gerechtfertigt. Dieses Seiten- und Gesinnungswechseln kennt man als den Gang durch die Institutionen, auf dem man umschwenkt und das, was man früher verwerflich fand, später für richtig hält. Dabei können die in jungen Jahren vehementesten Systemkritiker später zu den nachhaltigst überzeugten Systembefürwortern mutieren.

Moral und Rechtfertigungs-Postulat

Das Dilemma des vermeintlich moralisch besseren Menschen ist, dass sein positives Selbstbild erhalten bleiben muss. Um das zu erreichen, wird er sich in jeder Lebenslage eine Rechtfertigung zurechtlegen, die sein Handeln reinwäscht. Die ökonomische Eingebundenheit in das Gesellschaftssystem formt eine Selbstbestätigungsstruktur, die das Ich als moralische Instanz aufrecht erhalten muss. Dort ist sie, wenn sie Böses tun muss, entweder dazu gezwungen oder das Böse wird als das kleinere Übel kommuniziert. Ein Monsanto-Mitarbeiter könnte argumentieren, dass nur durch genetische Manipulation von Saatgut in Kombination mit der Verabreichnung von Insektiziden eine langfristige Ernährung der Weltbevölkerung möglich wäre. Ein amerikanischer Millitärangehöriger könnte selbstrechtfertigend argumentieren, dass er die Atombombe auf Russland werfen müsse, um zu verhindern, dass Russland es zuerst tut. So wird Unmenschlichkeit in eine moralische Verpflichtung umgemünzt.

Waterboarding und Beschneidung der Bürgerrechte als gute Tat

Von außen betrachtet – die subjektive Wahrnehmung außer Acht gelassen – würde solch eine Argumentation irrwitzig anmuten. Tasächlich wurde die amerikanische Demokratie nach dem 11. September 2001 in Amerika in Teilen außer Kraft gesetzt, indem Präsident George W. Bush größeren Schaden von Amerika abwenden wollte. Unter dem Label Terrorismusbekämpfung wurde mit dem Patriot Act das Heimatschutzministerium eingerichtet, das über der gängigen Rechtssprechung steht. Das hatte außerdem zur Folge, dass Geheimgerichte und Guantanamo als externes – nach amerikanischer Verfassung widerrechtliches Gefangenenlager – eingerichtet wurden. Die USA hatten außerdem begonnen, systematisch zu foltern. Und all dies innerhalb eines Selbstbildes, das sich selbst moralisch legitimiert sah. Waterboarding, Aushebung der Bürgerrechte, Verfolgung von Kritikern dieser Maßnahmen – all dies war innerhalb des Selbstbildkosmos‘ der höheren Gerechtigkeit gerechtfertigt, weil das Postulat, ein besserer Mensch zu sein, dies folgerichtig scheinbar nach sich zog, auch wenn institutionelle Gewalttätigkeiten und Abschaffung von Bürgerrechten keine Zwangsläufigkeit darstellen müssen. Eine Deklaration als „Das Böse“ rechtfertigt im Zweifelsfall alles in der Menschheitsgeschichte, ob Massenvergewaltigungen, Genozid, Kriege oder die Abschaffung der Demokratie.

Das Ende der Begrifflichkeiten „Gut“ und „Böse“

Immer dann, wenn ein Mensch sich explizit als besseren Mensch sieht und sich darüber definiert, wird er seine Wahrnehmung, die im Normalfall an den Postulaten des Gemeinwohls justiert ist, durch Selbstsuggestion und ein gruppenmanipulatives zudem medial verbreitetes Mantra einschränken. Die Lösung des Problems liegt darin, die Gleichwertigkeit aller Menschen als Grundlage zu setzen – ohne Gut und Böse. Dies zu akzeptieren und sich damit der klassischen Bewertung von menschlichem Verhalten zu entziehen, ist in der praktischen Umsetzung schwer. Zumal trotz einer Wahrnehmung, die sich den Gegebenheiten des Menschseins und seiner Eingebundenheit annimmt – wenn zum Beispiel politisch divergierende Meinungen in Handlungen münden, die weiterhin umstritten bleiben müssen. Gut und Böse in ihrer infantilen Begrifflichkeit abzuschaffen, heißt nicht, für die eigenen Werte und Ideale nicht einzustehen.