Thomas Mann im Hotel

Heute im Zug bin ich Thomas Mann begegnet. Ich hab mich zu ihm gesetzt. Nicht einfach so, es war kein anderer Platz mehr frei und ich wollte die kommenden zwei Stunden nicht stehend verbringen. Erst hab ich gezögert, aber er hat mich angelächelt. Sein Blick hat mir angedeutet, dass ich mich setzen darf. Er war dünn geworden, die Augen tief hinein gefallen in ihre Höhlen, die Haut wie Leder, aufgestellte Furchen. Ich hatte ihn so anders in Erinnerung, stattlicher mit herrischer Ausstrahlung und deutlich größer als ich. Wem nur kann ich von meiner Begegnung erzählen, die Zauberer würden mir huldigen, die Denker mich verstoßen.

Seine knöcherne Hand hält einen Spazierstock, dessen Griff von feinziseliertem Silber umhüllt ist. Mehrmals beobachte ich, wie sein kleiner Finger zuckt, sich unkontrollierbar zusammen rollt wie ein trocknender Wurm. Die Adern auf dem Handrücken treten wulstig blau hervor. Die Haut schimmert durchsichtig und so meine ich den Schlag seines Herzens darin zu sehen. Ruhig und kräftig dehnt es die Blutgefäße, um sie anschließend in einem etwa doppelt so langen Zeitraum wieder zusammen zu ziehen. Sein Körper jedoch stützt sich nicht auf der Krücke ab, braucht diesen Halt offenbar nicht und ich frage mich, warum er sie dann überhaupt mit sich herumträgt. Irgenwann nimmt er den Hut ab, legt ihn auf seine Beine. Die verschwundene Krempe gibt den Blick frei auf das künstliche kreisrunde Rouge seiner Wangen, auf die schwarze Umrandung seiner Augen und die viel zu blondierten Haare. Ich sehe eine vervollkommnende Ergänzung.

Seinen Mantel hat er anbehalten. Aber das habe ich auch.

Erst jetzt merkte ich, dass mir viel zu warm ist. Der Zug ist überheizt, draußen ist es kalt. Die Scheiben beschlagen vom Atem der vielen fremden Menschen, denen der Schnee von den Schuhen schmilzt. Nicht wichtig. Noch immer glotze ich auf die pulsierende Hand Thomas Manns, deren Farbe sich von einem dunklen Blau zu einem fahlen Graugrün verändert. Der Geruch von ekelhaft stinkendem Abwasser geht auf einmal von ihr aus und kriecht meine Nase hinauf. Tanzende Mückenschwärme umkreisen meine Pupillen. Gedanken schieben sich mir in den Kopf, dehnen sich aus zu schemenhaften Gestalten, drohen meinen Schädel zu sprengen, ergreifen von hinten meine Augäpfel, wollen sie aus meinem Kopf herausdrücken. Ich senke den Blick und presse die Lider zusammen, um sie an ihrem Vorhaben zu hindern. Doch die Dunkelheit meines Willens weicht dem glimmenden Glanz der Hingabe.

Da beginnt er zu sprechen, spricht ganz offensichtlich zu dem Mann, der ihm gegenüber sitzt und den ich bisher nur als Scherenschnitt-Silhouette im trüben Denklicht wahrgenommen habe. Ich lausche also seiner Stimme, nehme die hanseatische Melodie seiner Sprache wahr, folge ihr hinauf und lass mich von ihr hinabstoßen. Unter dem Rhythmus seiner Worte beginnen die Bilder hinter meiner Stirn zu tanzen. Dann erst formen sich die Laute zu erbrochener Sprache und ich beginne zu verstehen. Seine Stimmfarbe ist die eines jungen Mannes, der um die Gunst einer schönenFrau buhlt, die seine Liebe nie erwidern wird. Ich kann das Fieber seiner Stirn hören. „Ich werde sie begleiten, mein Lieber, und dieses Mal werden sie dort bleiben.“, sagt er. „Und auch ich werde aushalten. Zehrende Sehnsucht lehnt die Möglichkeit der Heilung ab. Man muss sich ihr fügen. Das müssen wir alle.“ Mit geschlossenen Augen warte ich gespannt auf die Antwort seines Gesprächpartners. Aber kein Ton dringt zu mir, dabei spüre ich die körperliche Anwesenheit dieses anderen Mannes, von dem ich vorher keine Notiz genommen hatte. Ein Hustenreiz überkommt mich, kratz mir den Hals auf. Ich belle los. Meine Augen laufen aus. Ich reisse sie auf, suche verzweifelt nach einem Taschentuch. Der Husten legt sich, meine Hand sucht die Armlehne, findet sie nicht und so greife ich instinktiv nach meiner anderen Hand und reibe die Handflächen gegeneinander, als müsse ich sie vor dem Erfrieren retten. Der junge Mann auf dem Sitz gegenüber, nimmt sie in die seinen. Ich rieche die Schweißperlen auf seiner Stirn, die seine Schläfe hinunter laufen, um in dem goldenen Besatz seiner Livrée zu versickern. Er führt meine Finger an seine Wange. Seinem Blick halte ich kaum stand. Mit einem Ruck ziehe ich meine Hand zurück. Um etwas zu tun, krame ich erneute in meiner Tasche und finde ein paar Hustenbonbons, die ich vorhin in der Apotheke geschenkt bekommen habe. Ich habe eine schreckliche Augenentzündung und hatte mir dort eine Salbe geholt. Nicht nur deshalb ist mein Blick getrübt. Hier werde ich sitzen bleiben. „Und Sie, Kindchen, Sie nehmen wir mit“, Thomas Mann hat mir den Griff seinen Gehstocks um den Hals gelegt und zieht mich zu sich her. Sein fauliger Atem dringt in mich.

Das Letzte, das ich von meinem Körper wahrnehme ist, dass ich vornüber kippe. Mein Mund füllt sich mit metallischem Geschmack, ich presse ein Taschentuch auf meinen Mund. Rot rinnt es aus meinen Mundwinkeln. Alle Menschen im Zug haben begonnen zu singen. „Komm her zu mir, Geselle, Hier findst Du Deine Ruh’!“

Thomas Mann Triaog