Vorsicht

Manchmal muss man zuerst etwas spalten, um Neues zu kreieren und in dem Neuen seine Mitte zu finden. Jean Giraud. GIR. Moebius. Zwei Namen und ein Kürzel, die zu seiner Person gehörten. Zu einem der brilliantesten Comic-Zeichner. Einem Mann, der so häufig zeichnen musste, wie er atmete.

Es gibt Musik, wie den Freejazz, die tritt an, um gegen jedes etablierte Konzept, gegen jede Einordnung anzugehen. Eine Kunstform, die auf der Suche nach der absoluten Freiheit ist. Und doch bilden sich im Laufe der Zeit Strukturen heraus, die auf etwas Verbindendes zwischen den frei improvisierten Stücken hindeuten und die Musik einordenbar machen. Sie lassen ein Muster erkennen, wo eigentlich nie ein Muster zu sehen sein sollte – das Ende der Freiheit? Jean Giraud hat dagegen angekämpft, sich zu wiederholen. Immer wieder wollte er Neues schaffen und blieb doch auch der, der er war.

Der zwiegespaltene Comiczeichner Jean Giraud

Aber wer war er? Er hatte sich ja schon früh aufgespalten in den traditionellen Western-Comiszeichner JeanGiraud, der mit GIR unterschrieb und in seinen der illustrativen Tradition verhafteten Zeichnungen Herkömmliches schuf, wenn auch auf hohem Niveau. Die andere Hälfte seines zeichnerischen Seins war Moebius, der versuchte, alle inhaltlichen und formalen Grenzen bei Comic und Illustration zu überwinden. Doch ganz richtig ist diese Trennung nicht. Denn Moebius hatte große Schnittmengen mit Jean Giraud. Wenn man sich die Incal-Saga um John Difool ansieht, so ist die zwar inhaltlich abgedreht (wenn auch sowieso nicht von Moebius geschrieben sondern von Alejandro Jodorowsky) aber zeichnerisch über weite Strecken recht „normal“ – sofern man diesen Begriff überhaupt unrelativiert auf Moebius anwenden darf. Auch die berühmte Comic-Kurzgeschichte The long Tomorrow von Dan O’Bannon geschrieben und von Moebius gezeichnet, die Filme wie Blade Runner beeinflusst hat, ist eher unspektakulär gezeichnet.

Der klassische Moebius mit altmeisterlichem Artwork

Was heißt „herkömmlich“ oder „normal“, wenn man den Zeichenstil von Moebius erörtert? Man kann es klar abgrenzen. Es gibt drei Arten wie Moebius gezeichnet hat. Sein Stil war ansich von Anfang an ein Insider-Witz. Denn der Stil von Moebius war ursprünglich den Kupferstichen und Stahlstichen alter Meister wie Doré entlehnt. Das tritt deutlich in der ersten Geschichte La Déviation (= Der Umweg), die 1973 im Comicmagazin Pilote erschienen war, zu Tage, in der sein Stil nach kurzer Probezeit schnell zur Blüte gereift war. Besonder deutlich wurde der Kontrast aber bei den Arzak-Geschichten, die zudem völlig ohne Sprechblasen und Texte auskamen, also sehr auf die Sprache der Bilder focussiert waren. In diesen Geschichten, die archaisch wirken und nicht richtig zwischen Fantasy und Science Fiction oder einer seltsamen Parallelwelt der Istzeit verortet werden können, hat Moebius irrwitzig realistisch gezeichnet und sowohl bei der Schraffur als auch bei der Farbgebung Standards des Realismus in der Darstellungstechnik in den Comics gesetzt. Er hat also eine alte Technik – die der Stich-Schraffur – anachronistisch in eine scienefictionhaft anmutende vorgebliche Zukunftswelt transformiert. Dieser Kontrast der völlig andersartigen Zukunfts-Welten, die er dargestellt hat und die altmeisterliche Schraffurtechnik der Vergangenheit – aber neu interpretiert – machten Moebius einerseits aus. Wobei man einschränken muss, dass seine Schraffuren nicht altmeisterlich wirkten, sondern viel lockerer, weil es keine gestochenen Schraffuren waren, sondern mit Filzstift und Feder gezeichnete. Dieser erste Moebius ist der klassische Moebius, der Moebius, der  virtuos wie kaum ein anderer die zeichnerischen Mittel hatte, imaginierte Welten überaus real erscheinen zu lassen.

Moebius und seine skizzenhaft-improvisierten Comics

Zum zweiten hat Moebius aber auch manche Kurzgeschichten gezeichnet, die zeichnerisch skizzenhaft wirken, wie hingeworfen, wie nebenbei improvisiert. Sie sind mit lockerem Strich gezeichnet, ohne oder nur mit wenig oder angedeuteten Schraffuren. Diese Geschichten gibt es nicht sehr häufig, sie verlassen aber eindeutig den Hyperrealismus, den gerade der frühe Moebius angestrebt hatte.

Blueberry, Mississippi River und der normale Jean Giraud

Der dritte Moebius hat herkömmlich realistisch wie bei Leutnant Blueberry gezeichnet nur stilistisch weniger schwungvoll und unter Umständen leicht mehr schraffiert. Beispiele dafür hatte ich oben schon genannt. Vor allem John Difool ist ein deutliches Beispiel dafür. Beim Inkal ist es aber sicher auch eine Frage der zeichnerischen Ökonomie; denn mehrere Alben lang am Stück die Mikroschraffuren auszuführen, ist eine Zeit- und Kraftfrage. Zu den herkömmlichen Arbeiten zählte auch das Album Mississippi River.

Der Comiczeichner Moebius als Maler

Eigentlich gibt es neben dem hyperschraffierenden Moebius, neben dem skizzenhaften und dem relativ herkömmlichen noch einen vierten, der aber nur selten gezeichnet hat, weil er Maler ist. Als Jean Giraud die Entscheidung getroffen hatte, seine fantastischen Comicarbeiten von Jean Giraud durch ein Pseudonym abzutrennen, war er zeichnerisch schon so weit, dass er begonnen hatte, Cover für die Blueberryalben nicht mehr zu zeichnen, sondern zu malen. Man konnte mit ansehen, wie er in kürzester Zeit als malender Illustrator immer besser wurde. Später nahmen gemalte Werke neben den Zeichnungen einen breiteren Raum ein. Dabei drang der Künstler Moebius immer weiter sogar in die abstrakte Malerei vor. Neben den gemalten Bildern gab es in Portfolios aber auch anderweitig teils oppulent kolorierte Zeichnungen als Einzelwerke oder kurze Comics. Auch Mischformen gehörten dazu, bei denen Zeichnungen malerisch koloriert wurden.

Der Einfluss von Moebius auf den Zeichner Jean Giraud

Zum anderen hat der Comic-Avantgardist Moebius aber auch zurück auf den Traditionalisten Jean Giraud gewirkt. Ab dem Blueberry-Album Angel Face kam es deutlich sichtbar zu einer stilistischen Veränderung der Zeichnungen. Ab diesem Album waren Teile der Zeichnungen eindeutig über die Schraffuren Moebius-beeinflusst. Diese Beeinflussung war punktuell schon früh gegeben, zum Beispiel auf einem Blueberryposter, das seinerseit in den 1970er-Jahren im deutschen Comicmagazin Zack erschienen war und Blueberry komplett schraffiert darstellte. Das letzte Album um Arzak, das in der populären Version mit Sprechblasen arbeitete (es gab einer kleinauflagige einfarbige Vorversion ohne Sprechblasen), wirkt vom Sujet her wie eine Blueberrygeschichte und ist zum Teil auch ähnlich gezeichnet.

Synthese von Moebius und GIR: Von der Vielfalt zur Einheit

Die Trennung der beiden zeichnerischen Welten, die Moebius geschaffen hatte, hatte Risse bekommen. Jean Giraud hatte ursprünglich Comics für ein Kinder- und Jugendpublikum gezeichnet. Moebius war ein intellektueller Zeichner von Erwachsenen-Comics. Der späte Jean Giraud hatte mehr Einfluß auf einen erwachseneren Blueberry als Comicfigar nehmen wollen, es kam aber zum Streit mit der Erbengemeinschaft von Jean-Michel Charlier, dem verstorbenen Texter der Serie. So blieb es bei einer nackten Brust von Chihuahua Perl im Album Arizona Love. Auch an dieser Stelle durchdrangen sich die unterschiedlichen Ansprüche beider Zeichenwelten, die zugleich verschiedene Inhalte repräsentiert hatten. Moebius macht in seinem selbstreflektorischen sechsbändigen Werk Inside Moebius auch Blueberry zur Figur, mit der er sich dort spielerisch auseinandersetzte. Nach dem Motto: Künstler Moebius trifft seine Trivialgeschöpfe.

Versöhnung von trivialen Comics und Erwachsenen-Comics

Die Comicwelt von Jean Giraud und Moebius war und ist doppeldeutig zu verstehen. Ein Zeichner hat sich in gewisser Weise aufgespalten in Trivialität und Konvention auf der einen Seite und Anspruch sowie Innovation auf der anderen Seite. Je älter der Zeichner geworden war, desto mehr haben sich beide Welten durchdrungen. Der Trivialität hat das Erwachsenwerden gut getan, die Innovation hat das Kindliche und Naive, die der Trivialität innewohnen, locker gemacht. Dieses Lockere, Verspielte und Augenzwinkernde haben Jean Girauds Zeichnungen sowieso ausgemacht. Aus den getrennten Comiczeichen-Welten ist letztlich eine gemeinsame mit unterschiedlichen Aspekten geworden. Moebius und Jean Giraud haben sich in dessen Spätwerk die Hand gegeben, so wie Blueberry, Major Grubert und Arzak bestimmt noch irgendwo mal zusammen Kaffee getrunken haben.