Mondschattengewaechs

Es war schon eine ganze Zeit her gewesen, seitdem er zu uns gekommen war. Er kann nicht sprechen, und als er damals an unserer Tür geklopft und wir ihn das erste Mal gesehen hatten, waren wir erst erschrocken und dann verwundert: ein Außerirdischer!

Doch andererseits waren wir schnell beglückt, vielleicht die ersten Menschen zu sein, die einen solchen Besuch erhielten. Er war so ganz anders, als wir uns einen Außerirdischen vorgestellt hatten. Sein Gesicht war durchaus menschenähnlich nur ganz anders. Seine Haut wirkte wie bräunlicher Edelstahl, was sehr gediegen aussah. Seine Nase begann am Haaransatz und zog sich über das ganze Gesicht bis zum Mund, nur dass der Mund praktisch am Kinn saß. So teilte seine schmale Nase das Gesicht in zwei Dreiecke, denn es lief nach unten hin spitz zu.

Wir bemerkten wie schwierig es war, jemanden anzusprechen, der keinen Namen hatte. Alles, was wir kennen, hat einen Namen oder es gibt einen Begriff dafür. Wofür es keinen Begriff oder keinen Namen gibt, das kann man nicht ansprechen. So nannten wir ihn nach langer Familienbesprechung „X“. X redete nicht, er aß nicht, ja oft waren wir nicht sicher, ob er uns überhaupt wahrnehmen konnte.

Wenn wir aßen, setzte er sich unter den Tisch. Dazu muss man wissen, dass er immer mit uns zusammensaß, auf der Couch oder auf einem Stuhl. Nur wenn wir Essen auf den Tisch stellten, verließ er seinen Platz und kauerte sich unter den Tisch. Die Katze legte sich dann neben ihn, so als hätte sie nur darauf gewartet, dass er sich auf den Boden setzte und dann streichelte er sie. Wir sprachen darüber, dass er und die Katze vielleicht mehr gemein hatten, als er mit uns. Beide redeten nicht, beide schienen sich selbst genug zu sein. Sie ruhten irgendwie in sich.

Natürlich haben wir uns auch gefragt, ob X überhaupt ein Außerirdischer war. Denn es gab bis auf sein metallisches Aussehen keinen Hinweis darauf: kein Raumschiff, keine Technologie, noch nicht mal Kleidung. Es war auch nichts Geheimnisvolles an ihm, wir hatten nie Angst vor ihm – auch wieder so ähnlich wie bei einer Katze. Konnte sie einen Verstehen? Was fühlte sie? All das wusste man von einer Katze nicht und doch vertraute man ihr.

Was tat X den Tag über? Eigentlich weder viel noch etwas Besonderes. Er bekam ein eigenes Zimmer mit einem Bett, in dem er auch schlief. Er schlief sehr viel. Mal 12 Stunden, mal 18 Stunden. Meist war die Katze auch bei ihm. Sie schien vernarrt in ihn und er mochte sie auch. Emmi, meine kleine Schwester sagte immer, wenn die beiden um die Ecke bogen: „Die Katzen kommen.“ Ansonsten sah er mit uns fern, saß am Tisch wenn wir spielten oder redeten und schien sich wohl zu fühlen. Er ging nie sonderlich weit vom Haus weg.

Papa hat gesagt, dass es etwas geben müsse, was ihm seine Energie gab. Wir aßen ja aber er nahm nichts zu sich. Woher nahm er seine Lebensenergie? Wir wissen es bis heute nicht. Er half im Haushalt, trug die Einkäufe rein. Dafür hatten wir ihm alte Kleidung von Papa gegeben. Auf den Hof kam kaum jemand aber wenn ihn jemand von weitem sah, sollte er wie ein Mensch wirken. Deshalb trug er auch einen großen Farmerhut.

Die Zeit war ins Land gegangen, X gehörte irgendwie zu uns. Nicht sprechen zu können hatte auch was für sich. Wir wissen es heute nicht aber vielleicht wäre alles so geblieben, wenn nicht eines Tages Emmi krank geworden wäre. Ihr war immer schlecht und sie musste ins Krankenhaus. Es war der traurigste Moment in meinem Leben. Meine kleine Emmichen. Emmi war tapfer. Sie kam zurück aus dem Krankenhaus. Ich bemerkte einmal wie X Emmi zu betrachten schien. Sie war ganz bleich und noch etwas dünner als sonst. Aber X tat nichts weiter und war wie sonst. In der Folgezeit wurde Emmi immer kränker.

Eines Tages sagten und Mama und Papa, dass wir eine Familienkonferenz abhalten müssten. Sie sagten uns, dass sie lange mit sich gerungen hätten, ob sie es uns sagen sollten, aber sie wollten, dass wir unsere Schwester Emmi nicht Knall auf Fall verlören, sondern ihr Ableben bewusst miterleben könnten. Emmi hätte nicht mehr lange zu leben, ein paar Wochen noch oder nur Tage, vielleicht Monate aber das wäre ihr noch nicht einmal zu wünschen, damit sie sich nicht so quälen müsse.

An diesem Abend waren wir ganz still. Keiner sagte etwas. Und X, der bei dem Gespräch dabei gewesen war, schien uns noch einmal näher zu sein, weil wir alle wie er kein Wort sagten. Wir trugen das Essen auf. Emmi saß in einem Rollstuhl mit uns am Tisch, weil sie so schwach war. Sie wurde künstlich ernährt und konnte nichts essen.

X machte etwas, was er noch nie getan hatte: Er stand auf, ging zu Emmi und entfernte den Schlauch aus der Kanüle auf ihrem Handrücken. Eigentlich hätten zumindest meine Eltern protestieren müssen aber merkwürdigerweise sagte niemand etwas. Wir hatten noch nie gesehen, dass X etwas zielstrebig oder schnell tat. Er wirkte sonst so ruhig und bedächtig. Vielleicht waren wir deshalb so überrascht und taten nichts.

X war dann unter den Tisch gekrochen und mit ihm Emmi. Wir alle sahen, wie sie aus ihrem Rollstuhl geglitten war und langsam X auf allen Vieren hinterher kroch. Mama musste weinen. Emmi so zu sehen, versetzte uns allen einen Stich ins Herz, andererseits war es schön, dass sie sich endlich mal wieder bewegte. Unsere Blicke waren den beiden verwundert gefolgt. Sie saßen nur da und sahen aus wie vorher. Mit einer Ausnahme: Emmi lächelte.

Emmi lächelte zum ersten Mal seit vielen Monaten. Sie, X und die Katze saßen dort unter dem Tisch und schienen zufrieden. Dieses Bild der drei wird keiner von uns je aus dem Kopf bekommen. Es war eine komische Situation. Es gab nichts Besonderes oder nichts, was uns Angst machte und es war so schön, dass Emmi endlich mal wieder lächelte aber dennoch war es seltsam, die drei in inniger Zufriedenheit dort sitzen zu sehen.

Es verging eine ganze Zeit. Wir hatten wieder etwas geredet. Mit Emmi, ob es ihr gut ginge. Wir hatten uns auch gefragt, was wir tun sollten. Doch dann aßen wir einfach in Ruhe unser Abendessen. Als wir fertig waren und uns auf den Boden zu den dreien setzten, wirkte Emmi verändert. Sie war nicht mehr so bleich und sie spielte mit der Katze. Mama guckte ganz verwundert und musste wieder weinen und Papa sah ich an diesem Tag zum ersten Mal weinen. Er hielt Emmis Handgelenk und sagte, dass sie gar nicht mehr so kalt wäre wie sonst.

Am nächsten Tag fuhren wir alle zusammen zur Klinik. X musste das Haus alleine hüten. Die Ärzte sagten, dass es Emmi gut ginge. Sie machten Tests und waren aufgeregt. Emmi war gesund. Sie sagten, dass man nie sicher sein könne aber sie sei genesen, obwohl sie die Therapie längst beendet hatten. Auf dem Weg zurück im Auto schwiegen wir wieder. Nur Emmi lachte und kniff uns. Sie sagte von der Rückbank zu Mama und Papa, dass sie jetzt wissen würde, wovon sich X ernähre würde: „Von allem Bösen und Schlechten auf der Welt“, rief sie laut. Wir mussten alle lachen.

Zuhause angekommen saß X mit der Katze da wie immer. Wir wollten ihn umarmen und ihm danken aber er wirkte wie immer, in sich gekehrt und als wäre er mit den Gedanken woanders. X lebte noch lange bei uns. Seit diesem Tag durfte Emmi sich auch mal beim Essen zu ihm setzen. Er wurde im Laufe der Zeit noch ruhiger und langsamer und oft, wenn wir unter den Tisch blickten, lag er dort und Emmi streichelte ihm über die Haare und sagte leise „Mein Feiner“.

Eines Tages war er nicht heruntergekommen. Wir fanden ihn in seinem Zimmer. Er lag dort, was er noch nie getan hatte, zusammengerollt wie eine Katze. Wir beerdigten ihn hinterm Haus nahe der alten Eiche.

Heute kommt mir das, was damals passiert ist, wie eine Geschichte, die man sich erzählt, vor. Emmi ist seit diesem Tag nie wieder krank gewesen. Sie hat noch nicht einmal Schnupfen. Seitdem ist es manchmal so, dass wir am Tisch sitzen und lange nichts sagen, was für eine so große Familie eine Besonderheit ist. Dann denken wir an ihn.

Emmi hatte nach ihrer Krankheit ein dickes Tagebuch mit unlinierten Seiten geschenkt bekommen. Sie hat, nachdem X gestorben war, in tagelanger Arbeit mit einem Stift auf jede Seite, die noch nicht beschrieben war, ein X als Konturbuchstaben gezeichnet. Seitdem hat sie alles, was sie aufgeschrieben hat nur noch in diese Xe hinein geschrieben. (Für S.)