Unbestimmtheit

Ob beim Betrachten eines Gemäldes, beim Genuss von Wein oder Zigarren, beim Essen oder beim Fühlen einem Menschen gegenüber: Wahrnehmungs-Empfindungen verändern sich und sind jeden Tag anders.

Sie bleiben nicht gleich. Jeden Tag ein Glas Rotwein zu trinken, ist jeden Tag ein gewandeltes Geschmackserlebnis. Jeden Tag einen Menschen wahrzunehmen, heißt, ihn jeden Tag etwas anders zu empfinden. Jeden Tag ein Gemälde zu betrachten, bedeutet, es jeden Tag etwas anders anzusehen. Die Nuancen formen das Erleben.

Der Wert des stetigen Wandels

In diesem variantenreichen Wandel liegt Reichhaltigkeit. Die stetige Veränderung als das niemals Gleiche ist die Essenz des Lebens. Zu keiner Zeit in keinem Augenblick ist das Leben auf etwas festzulegen, weil es beim nächsten Mal ganz anders sein kann. Liefe etwas immer gleich ab, hätte das Leben angehalten, weil es dann Dynamik und Lebendigkeit verloren haben würde.

Ungefähres und Vollendlung

Empfindungen sind deshalb nicht greifbar, weil sie von Augenblick zu Augenblick nicht verlässlich und deshalb ungefähr bleiben. Der Mensch strebt danach, das Ungefähre zur Vollendung zu führen, es auf einen höchsten Zustand festzulegen. Dieser Zustand ist aber unerreichbar, er ist nur anzustreben und annäherungsweise zu verwirklichen. Die Weisheit ist nicht neu: Wer zu gierig wird, verbrennt. Wer also Angst vor dem Schwebezustand des diffus Ungefähren hat, vor der Überraschung oder Enttäuschung der nächsten Nuance und sie festlegen will auf die bleibend beste Empfindung, wird das nur erreichen können, indem er ganz aufhört zu empfinden. Wesentliches in der Kunst muss deshalb ungefähr und nicht greifbar bleiben und sich damit der zu platten Eindeutigkeit entziehen.

Kunst als Überraschung

Kunst ist aus dieser Perspektive betrachtet eine immer wieder neue Überraschung. Sie kann verblüffen, provozieren oder Aha-Erlebnisse bescheren. Wenn Kunst vorhersehbar wird, würde sie kalkulierbar sein und sich damit des unvorhersehbar Ungefähren entledigen.

Weitere Kunsttagebücher:

  1. Was ist Kunst? Und warum nicht?
  2. Als die Nacht aus dem Blickwinkel des Tages unterbelichtet wirkte
  3. Warum Eitelkeit zur Kunst gehört und doch ihr Untergang ist
  4. Ziellosigkeit als Grundlage assoziativer Prozesse
  5. Kopfkino oder zeigen und weglassen im anspruchsvollen Film
  6. Warum die Größe einer Zeichnung ihre Aussage verändert
  7. Wann Form ein Inhalt sein kann
  8. Was könnte das sein?
  9. Gedanken-Gefühls-Bilder innerhalb einer Formgenese
  10. Die Welt ist voller Möglichkeiten oder Zufall und Entscheidung in der Kunst
  11. Über das „Zuviel“
  12. Wiederholung als Formoptimierungs-Prozess
  13. Der assoziationsoffene Raum
  14. Kunst und technisch-handwerkliches Können: Warum es besser ist, nichts zu können
  15. Methoden der Kunst: Durch Wegnehmen und Hinzufügen Bedeutungen erschaffen
  16. Der Kunsst
  17. Was ist Kunst?
  18. Künstler-Selbstbild: Skizze eines zufallsgesteuerten Lebens ohne anarchistische Romantik
  19. Beliebigkeit als Kunstprinzip: Über die vermeintliche Sinnlosigkeit assoziativer Folgerichtigkeit
  20. Langlauf oder Kurzstrecke? Das Intervall in der Kunst
  21. Der Künstler: Ein Assoziationsautomat
  22. Zeichnen und die Macht des Zufalls
  23. Vorhersehbarkeit und Offensichtlichkeit – über die Langeweile in der Kunst
  24. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  25. Hinz- und Kurzgeschichte: Als der Unterhaltungskünstler den ernsthaften Künstler traf
  26. Über die metaphorische Schwangerschaft der Bilder
  27. Über das Vorläufige und das Endgültige in der Kunst
  28. Warum Kunst ein Virus ist
  29. Kreieren und wiederholen: Warum Kunst nicht kreativ ist
  30. Das Unverwechselbare in der Kunst als Ausdruck der eigenen Unfähigkeit
  31. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  32. Der blinde Fleck und die Kunst der Betrachtung
  33. Kompetenz und Versagen als sich selbst bedingende Gleichzeitigkeit
  34. Kunst als Selbstdialog
  35. Ordnung und Chaos als Polaritätskonzept künstlerischen Wirkens
  36. Die Überforderung
  37. Eindeutigkeit und Wahrnehmung in der Kunst
  38. Kunst als Sprache
  39. Der Mangel als Ansporn
  40. Bedeutung und Orientierung als Ziele der Kunst
  41. Selbstbild und Seins-Inszenierung
  42. Kunst als Chiffre der Notwendigkeit
  43. Kunst als fortgesetzter Traum
  44. Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!?
  45. Die Maslow-Bedürfnis-Pyramide oder fühlen und durchleben in der Kunst
  46. Jenseits der Worte
  47. Wahrheit und Verdrängung
  48. Das Gefühl für die Dinge oder von der Schwierigkeit, Kunst zu definieren
  49. Zwischen Selbsttransformation und Fremdwahrnehmung
  50. Die Absolutheit der Ich-Perspektive
  51. Fehler machen als „Sesam-öffne-dich“
  52. Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen
  53. Jede Regel will gebrochen sein
  54. Die Intrinsik als Wesenszug