Drachengesicht

Kunst gilt dann als wertvoll, wenn sie eigenständig ist, wenn sie keine Kopie sondern ein Original ist, etwas Besonderes, etwas Einmaliges. Aber geht das überhaupt? Ist nicht jede musische und künstlerische Lebensäußerung Ergebnis eines Einflusses? Hat nicht jeder Künstler Vorbilder, denen er nacheifert, die er am Anfang kopiert, um erst später einen eigenen Stil zu entwickeln?

Man denke daran, wie stilbildend Egon Schiele (1890-1918) als Zeichner und Maler in seinem kurzen Leben wurde. In seinen Anfängen waren einige seiner Bilder aber stark beeinflusst von der Stilistik seines Mentors Gustav Klimt (1862-1918). Schiele ging also von der Formensprache Klimts aus, emanzipierte sich dann aber schnell davon und entwickelte etwas Eigenständiges. Der Stil Klimts war für Schiele in einer bestimmten Lebensphase ein Teil des Grundes auf dem er als Künstler stand. Doch ist klar, dass Kunst wie Wissenschaft oder Handwerk nicht im luftleeren Raum entstehen. Kunst bezieht sich auf etwas – und das nicht nur in der initiierenden Phase, in der der Künstler seine Kunst herausbildet und erlernt.

KünstlerInnen als Reiz-Modulator

Kunst kann als eine Kommunikationsform angesehen werden, bei der der Künstler/die Künstlerin wie eine Antenne Reize aufnimmt, wozu eine gewisse Offenheit und Sensibilität gehören. Der Künstler kommuniziert hier mit seiner Umwelt. Denkbar ist im Gegensatz dazu aber auch, dass ein Künstler nicht sensibel für die Welt und ihre äußeren Impulse ist, sondern dass er seine Kunst aus sich selbst heraus schafft. In diesem Fall würden innere Reize die Kunst beeinflussen oder initiieren. In der Regel funktioniert Kunst aber als eine Mischform verschiedener Einflüsse – von Innen und von außen.

Von der Muse geküsst

Der Vorgang der Beeinflussung eines Künstlers und seiner Kunst bzw. das Sich-beziehen auf etwas, was die Kunst antreibt, wird oft mit Inspiration gleichgesetzt. Auch der Umstand, dass (in der Regel weibliche) Personen, die dem Künstler ein Gefühl vermitteln, das in Bezug zu seiner Kunst steht, „Muse“ genannt werden, hängt damit zusammen. Eine Muse ist eine menschliche Inspirationsquelle, dabei kann sie selbst zum Thema oder Inhalt der Kunst werden oder diese anregen.

An die Assoziationskette gelegt

Alle möglichen Einflüsse können Assoziationen auslösen, die in Assoziationsketten immer weiter weg vom inspirierenden Ursprung führen und zu etwas anderem werden. Der Künstler fungiert wie ein Sieb oder ein Filter, der den Impuls umformt und zu etwas Eigenem machen kann. Geht dies sehr weit, ist kaum auszumachen, woher die Einflüsse stammen.

Kunst aus dem Nichts?

Vor allem wenn der/die Kunstschaffende seine Inspirationen aus einer eigenen reichen Innenwelt bezieht, verschließen sich die Herkunfts- und Bezugspunkte seiner Kunst. Sie erscheint als etwas, das aus dem Nichts gekommen ist, doch das ist nie so. Erfahrungen, mediale und persönliche Kommunikationsformen und Kommunikationsreize prägen, was der Künstler tut. Dies ist weder eindimensional noch linear zu betrachten, also keine simple Ursache-/Wrkungsfolge. Zu berücksichtigen ist bei vielen Kunstformen, dass mehrfache Spiegelungen und Brechungen von Erlebtem oder allgemein von Reizen stattfinden können und dass diese verfremdend wirkenden Verarbeitungsprozesse das Ergebnis von seinen Ursprüngen völlig entrücken können. Genauso wichtig kann die Kombination von Einflüssen sein. Gerade wer besonders offen oder sensibel reagiert, kombiniert vielfältige Eindrücke, die sich gegenseitig beeinflussen, wobei die Kombination jeden einzelnen Einfluss unkenntlich machen kann.

Kunst als Transformationsprozess

Ein hohes Maß an Offenheit lässt vielfältige Inspirationen zu und nimmt sie gespiegelt, gefiltert und verfremdet auf in das eigene künstlerische Werk. Auf dem Weg über einfache Assoziationen oder komplexe Assoziationsketten wird die eigene Wahrnehmung in etwas Eigenes und unter Umständen Neues umgewandelt. Einflüsse sind also die Grundlage jeder Kunst. Die Kunst insgesamt ist ein Transformationsprozess, der immer zugleich Anfang und Ende von etwas bildet. So wie Einflüsse aufgenommen werden, beeinflusst die eigene Kunst andere. Nur, wer nicht verarbeitet, wer nicht etwas Eigenes einbringt, plagiiert oder langweilt den Betrachter, weil er ungefiltert zum Beispiel als Teil einer Modeströmung wiederholt.

Weitere Kunsttagebücher:

  1. Was ist Kunst? Und warum nicht?
  2. Als die Nacht aus dem Blickwinkel des Tages unterbelichtet wirkte
  3. Warum Eitelkeit zur Kunst gehört und doch ihr Untergang ist
  4. Ziellosigkeit als Grundlage assoziativer Prozesse
  5. Kopfkino oder zeigen und weglassen im anspruchsvollen Film
  6. Warum die Größe einer Zeichnung ihre Aussage verändert
  7. Wann Form ein Inhalt sein kann
  8. Was könnte das sein?
  9. Gedanken-Gefühls-Bilder innerhalb einer Formgenese
  10. Die Welt ist voller Möglichkeiten oder Zufall und Entscheidung in der Kunst
  11. Über das „Zuviel“
  12. Wiederholung als Formoptimierungs-Prozess
  13. Der assoziationsoffene Raum
  14. Kunst und technisch-handwerkliches Können: Warum es besser ist, nichts zu können
  15. Methoden der Kunst: Durch Wegnehmen und Hinzufügen Bedeutungen erschaffen
  16. Der Kunsst
  17. Was ist Kunst?
  18. Künstler-Selbstbild: Skizze eines zufallsgesteuerten Lebens ohne anarchistische Romantik
  19. Beliebigkeit als Kunstprinzip: Über die vermeintliche Sinnlosigkeit assoziativer Folgerichtigkeit
  20. Langlauf oder Kurzstrecke? Das Intervall in der Kunst
  21. Der Künstler: Ein Assoziationsautomat
  22. Zeichnen und die Macht des Zufalls
  23. Vorhersehbarkeit und Offensichtlichkeit – über die Langeweile in der Kunst
  24. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  25. Hinz- und Kurzgeschichte: Als der Unterhaltungskünstler den ernsthaften Künstler traf
  26. Über die metaphorische Schwangerschaft der Bilder
  27. Über das Vorläufige und das Endgültige in der Kunst
  28. Warum Kunst ein Virus ist
  29. Kreieren und wiederholen: Warum Kunst nicht kreativ ist
  30. Das Unverwechselbare in der Kunst als Ausdruck der eigenen Unfähigkeit
  31. Das Ungefähre als das nicht Greifbare
  32. Der blinde Fleck und die Kunst der Betrachtung
  33. Kompetenz und Versagen als sich selbst bedingende Gleichzeitigkeit
  34. Kunst als Selbstdialog
  35. Ordnung und Chaos als Polaritätskonzept künstlerischen Wirkens
  36. Die Überforderung
  37. Eindeutigkeit und Wahrnehmung in der Kunst
  38. Kunst als Sprache
  39. Der Mangel als Ansporn
  40. Bedeutung und Orientierung als Ziele der Kunst
  41. Selbstbild und Seins-Inszenierung
  42. Kunst als Chiffre der Notwendigkeit
  43. Kunst als fortgesetzter Traum
  44. Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!?
  45. Die Maslow-Bedürfnis-Pyramide oder fühlen und durchleben in der Kunst
  46. Jenseits der Worte
  47. Wahrheit und Verdrängung
  48. Das Gefühl für die Dinge oder von der Schwierigkeit, Kunst zu definieren
  49. Zwischen Selbsttransformation und Fremdwahrnehmung
  50. Die Absolutheit der Ich-Perspektive
  51. Fehler machen als „Sesam-öffne-dich“
  52. Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen
  53. Jede Regel will gebrochen sein
  54. Die Intrinsik als Wesenszug