FrauenkopfGeht man davon aus, dass jeder Mensch anders wahrnimmt, wäre theoretisch für jeden Menschen jedes Kunstwerk, jedes gemalte Bild ein jeweils anderes – ein etwas anderes oder ein gänzlich anderes? Und wäre die Aussage des Bildes dann beliebig oder würde es eine „Resteindeutigkeit“ geben?

„Eindeutigkeit“ würde bedeuten, dass viele, die meisten oder nahezu alle Rezipienten gleich oder zumindest ähnlich wahrnehmen müssten. Nähme man an, die Wirkung der Kunst läge vor allem im Auge des Betrachters, wäre das Kunstwerk ansich Verhandlungsmasse, es wäre zu uneindeutig, unter Umständen wäre seine Aussage beliebig. Kritiker könnten diesen Umstand nur relativieren, indem sie sich auf ein Beurteilungsregelwerk verständigen oder für sich ein solches Regelwerk definieren und dessen Kriterien, denen gemäß sie ihr Werturteil fällen würden, transparent machten.

Eindeutige Kunst?

Der Künstler seinerseits könnte darüber nachdenken, wie er sein Kunstwerk so anlegt, dass es in eine bestimmte Richtung verständlicher wäre. Er würde also seinen ästhetischen Willen mit der Absicht möglichst großer Eindeutigkeit koppeln, was jedoch bedeuten würde, seine Kunst verstandesgesteuert vor und während des Malprozesses zusätzlich zu filtern. Das Ergebnis wäre unter Umständen eine Simplifizierung der Kunst etwa nach Kriterien der vom Publikum gelernten Zeichen oder Symboliken. Damit wären verschiedene Fragen verbunden: Liefe die Kunst dann Gefahr zu verflachen? Dürfte sie überhaupt noch Wagnisse eingehen und innovativ sein? Weil wirklich Neues das Problem hat, schlechter verstanden zu werden und damit Tür und Tor für unterschiedlichste Interpretationen öffnen würde. Ob jedoch überhaupt das Ziel von mehr Eindeutigkeit erreicht werden kann, ist damit noch nicht geklärt.

Fakenews und Erkenntnis

Sieht man sich ganz allgemein kommunikative Prozesse auch jenseits von Kunst rund um Werturteile in der Gesellschaft an, so findet man oft eine Polarisierung des Wahrnehmungs- und Meinungsbildes vor:

  • Die einen finden zum Beispiel Donald Trump in seinem Wirken und Handeln unmöglich, die anderen verehren ihn.
  • Die einen sehen in einem von einer Künstlichen Intelligenz geschaffenen digitalen Bild ein großes Kunstwerk und zahlen viel Geld dafür, für die anderen ist es nichtssagend.
  • Die einen halten sogar die Tatsache des Klimawandels für nicht gegeben, während die anderen die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die erdrückende Mehrheit aller Wissenschaftler ermittelt hat, ernst nehmen.

Wahrnehmungen widersprechen sich. Dennoch ist es nicht umstritten, dass es ein Klima ansich gibt oder ein digitales Bild oder einen amerikanischen Präsidenten. Nur welche Eigenschaften diesen Realitäten zugewiesen werden, das unterscheidet sich sehr.

Eindeutigkeit und Differenzierungsgrad

Eindeutigkeit ist auch ein Problem der Differenzierung; denn je differenzierter man etwas betrachtet, desto mehr fallen die Unterschiede der verschiedenen Wahrnehmungen auf. Aber dass bei nicht sehr weitgehender Differenzierung zum Beispiel ein Schwan als Schwan wahrgenommen wird, ein Meer als Meer und ein Berg als Berg sollte man bei der Mehrzahl der Rezipienten voraussetzen können. Die grundsätzliche Eigenschaftswahrnehmung, die noch keine Wertung und kein Fühlen enthält, schein damit tendentiell verlässlicher und eindeutiger zu sein. Wenn man fragen würde, um was für einen Schwan auf dem Bild es sich konkret handelt und je detaillierter man dies wissen möchte, desto mehr werden die Meinungen auseinandergehen.

Betrachtungsgegenstand und Gefühl

Wenn man weiter fragt, wie jemand den Schwan empfindet, das heisst, welches Gefühl das Motiv beim Betrachter auslöst, wird man sehr unterschiedliche Aussagen erhalten. Je feiner verästelt die Fragen sind, desto größer könnten die Unterschiede werden. Der eine Betrachter könnte den Schwan als schön und harmonisch wahrnehmen, ein anderer Betrachter desselben Bildes im Schwan eine Bedrohung erkennen. Dabei wird die Motivik des Bildes – und zwar sowohl die Grundmotivik als auch die Art ihrer Ausführung und Differenzierung – nicht wertfrei rein werkimmanent gesehen, sondern mit eigenen also werkfremden Befindlichkeiten gekoppelt. Wer den Angriff eines Schwans miterlebt hat und dies in negativer Erinnerung hat, wird einen Schwan nicht wertfrei und gefühllos betrachten können.

Abstraktion und Naturalismusgrad

Eindeutigkeit ist weiter abhängig vom Grad der Konkretion und des Naturalismus in der Darstellung. Ein abstrahiertes Bild, das keine Motivik der eigenen Erlebniswelt, der Alltagswelt oder des Erfahrungshorizontes enthält, wird mit mehr Mutmaßungen wahrgenommen. Symbolische Bilder müssen zu entschlüsseln sein, um eine Vereinbarung über deren Aussage erzielen zu können. Wer den Symbolgehalt nicht entschlüsseln kann, wird das Bild anders auffassen als der, der in einem Symbol eine Bedeutung sieht. Symbole können sogar konzeptionell auf Bedeutungsoffenheit abzielen oder mehrdeutig sein, sie können somit darauf angelegt sein, Platzhalter gleich mehrerer verschiedener Bedeutungen zu sein.

Priorität und Deutung

Wer wertet, gewichtet auch und setzt damit unterschiedliche Prioritäten. Für den einen Betrachter kann das Bild bestimmt sein durch seine düsteren monochromen Farben, für den anderen Betrachter ist die Lichtwirkung unerheblich, für ihn zählt der lächelnde Gesichtsausdruck der portraitierten Person, egal wie hell oder dunkel er dargestellt ist. Diese Unterschiede in der Wichtigkeit von Teilaspekten führt dazu, das Bild aus einem jeweils anderen Blickwickeln wie Farbe, Maltechnik, Komposition usw. zu betrachten und aufufassen.

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  33. Der blinde Fleck und die Kunst der Betrachtung
  34. Kompetenz und Versagen als sich selbst bedingende Gleichzeitigkeit
  35. Kunst als Selbstdialog
  36. Ordnung und Chaos als Polaritätskonzept künstlerischen Wirkens
  37. Die Überforderung
  38. Kunst als Sprache
  39. Der Mangel als Ansporn
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  42. Kunst als Chiffre der Notwendigkeit
  43. Kunst als fortgesetzter Traum
  44. Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!?
  45. Die Maslow-Bedürfnis-Pyramide oder fühlen und durchleben in der Kunst
  46. Jenseits der Worte
  47. Wahrheit und Verdrängung
  48. Das Gefühl für die Dinge oder von der Schwierigkeit, Kunst zu definieren
  49. Zwischen Selbsttransformation und Fremdwahrnehmung
  50. Die Absolutheit der Ich-Perspektive
  51. Fehler machen als „Sesam-öffne-dich“
  52. Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen
  53. Jede Regel will gebrochen sein
  54. Die Intrinsik als Wesenszug