Gesellschaftliche Vereinbarung

Überall in den Medien ist von politischen Gegensätzen als Abbild der Gesellschaft die Rede. Jüngst sorgte die Einführung der neuen EU-Urheberrechtsrichtline für eine Spaltung der Meinungen. Die CDU arbeitete mit Fake News, indem sie Gegner der Richtlinie als nicht existente Bots bezeichnete oder verbreitete, Proteste wären gekauft. Beides war die Unwahrheit. Dies war ein Tiefpunkt der EU-Politik. Andernorts müssen sich Wissenschaftler daran abarbeiten, Erderwärmungsleugnern zu erklären, wie abstrus ihre Argumentation ist. Oder sie müssen erklären, warum die Welt keine Scheibe ist.

Interessant an all dem, bei dem Fakten durch Meinungen ersetzt oder Meinungen als Fakten verbreitet werden, ist ein Mechanismus, der oft aus dem Blick gerät: Der Mechanismus der gesellschaftlichen Vereinbarung, bei der ein Konsens erzielt wird. Ein Konsens ist eine Übereinstimmung, es wird eine Einigheit im Dialog hergestellt, der dazu führt, dass man handlungsfähig wird – eine der Grundlagen demokratischer Politik. Allerdings: In der Praxis scheint sie so nicht mehr so zu funktionieren. Denn wenn sich die Gesellschaft auflädt mit polarisierenden Meinungen, ist ein Dialog erschwert oder verunmöglicht. Eine Grundlage politischer und gesellschaftlicher Misstände sind fehlende Vereinbarungen. Sie fehlen deshalb, weil divergierende Meinungen nicht mehr ausgeglichen werden, weil gegensätzliche Parteien nicht mehr miteinander reden. Die CDU hat auf Europaebene vorgemacht, dass sie an einem Dialog mit Andersdenkenden nicht interessiert ist. Sie hat sachliche Kommunikation eingetauscht gegen Verunglimpfung und Herabwüdigung des politischen Gegners.

Dissens und Konsens

Am Anfang steht beim Abgleich von politischen Meinungen, Lebenseinstellungen oder Weltsichten mitunter ein Dissens, also divergierende voneinander abweichende Meinungen. Das „Meinungsverschiedenheit“ zu nennen, wäre nicht ganz richtig, weil „Meinungsverschiedenheit“ sich oft eine nicht ganz sachliche Auseinandersetzung meint. Im Dialog werden Meinungen ausgetauscht und Verständnis wird erzeugt. Warum funktioniert das heutzutage nicht mehr gut? Mehrere Faktoren scheinen aktuell dafür ausschlaggebend zu sein.

Gründe für die gesellschaftliche Polarisierung

Eine wirtschaftlich erfolgreiche westliche Demokratie wie Deutschland, wirkt auf ihre Bürger wie ein Versprechen, das zu sagen scheint: „Uns geht es gut und uns wird es weiterhin gut gehen.“ Der in Aussicht stehende tiefe Fall nach der Weltwirtschaftskrise hat die Bürger verunsichert und ängstlich gemacht und ließ sie an einer in die Jahre gekommenen Demokratie zweifeln, deren Parteien im Deutschen Bundestag gar nicht mehr richtig diskutieren – höchstens ausnahmsweise, wenn klar ist, die Debatte kommt zur besten Sendezeit im Fernsehen. Interessante Redner wie Gregor Gysi bleiben die Ausnahme. Ein Bürger also, der es selbst schon als Aufwand betrachtet, wählen zu gehen, hat sich seiner Demokratie entfremdet. Im Medienzeitalter aalglatt und stromlinienförmig geschliffene Politiker, die medial sozialisiert wurden, tragen depressive Gesichter der Überlastung vor sich her, die auf Knopfdruck lächeln, wenn Kameras in der Nähe sind. Den Wähler allerdings locken sie si nicht mehr hinterm Ofen hervor.

Der Populist als unterhaltsames Megaphon

Attraktiver erscheint da schon ein Populist, der deutliche Worte findet und dessen offenbare Lügen plötzlich spannend wirken. Es mögen zwar Lügen sein, vielleicht sogar erkennbare Lügen, aber damit traut sich der Populist mehr als jeder Berufspolitiker aus CDU oder SPD, der Angst hat, das Falsche zu sagen und nur noch inhaltsleeres Politsprech absondert. Wenn ein Bürger also politisch gelangweilt ist, wenn ihn ein nicht enden wollender Strom politischer Talkshows und Nachrichten abgestumpft hat, wenn er durch eine Wirtschaftskrise entweder verunsichert ist oder tatsächlich betroffen oder wenn er nur schon Zukunftsangst hat, dann, ja dann ist er anfällig für radikalisierte Lügengeschichten. Zur vorhandenen oder eingebildeten Unzufriedenheit, letztere aufbauend auf diffusen Zukunftsängsten, kommt in der leidenschaftslosen Demokratie ein neues Vertriebs-Medium für Nachrichten hinzu: Das Internet.

Websurfer ertrinken in den Informationsfluten

Das Web als Informationsstrom ist relativ neu und ergießt lawinenartig einen Schwall irrelevanter Informationen über seine Konsumenten. So erdrückend ist der, dass er alles Relevante zuschüttet. Die wichtige Information wird zur Nadel im Heuhaufen. Lügen über den politischen Gegener, angeblich verstrahlte Weltmeere, angebliche tägliche Massenvergewaltigungen durch Muslime und das mannigfaltige Ende der Welt, angeblich verursacht durch Zuwanderung, verbreiten sich explosionsartig, stacheln Hass an, kitzeln starke Gefühle und Ängste hervor. Der Medienkonsument, der versiert war im Umgang mit gefilterten und verdichteten Informationen, reagiert nur noch hilflos auf all die Unsachlichkeiten und Gefühlsausbrüche. Das Internet wird zum Ort des Exihibitionismus und der Hemmungslosigkeit, all die negativen Auswüchse überlagern die positiven Möglichkeiten, die es auch bietet.

Das Web krempelt die Medienlandschaft um

Die USA machen vor, wie viele rechte und konservative Ideologen, Influencer, Redner und regelrechte Prediger den aufgeklärten Medien insbesondere dem Fernsehen durch Podcasts und Videoformate im Internet den Rang ablaufen. Auch Ideologen wie Steve Bannon, der sehr rechts stehende Ex-Berater von Donald Trump, Verschwörungstheoretiker wie Alex Jones oder Redner und Buchautor Jordan Peterson, der Emanzipation kritisiert und sich gegen linke Positionen in Stellung bringt, blasen unterschiedlich laut ins Horn des Populismus.

Fake-News-Schreihals Alex Jones

Alex Jones, der lauteste von allen, hatte behauptet, der Amoklauf von Sandy Hook hätte nicht stattgefunden, tatsächlich hätte es sich um Schauspieler gehandelt, die nur so getan hätten, als hätte es ein Massaker gegeben. Bei dem Amoklauf im weiteren Einzugsgebiet von Nw York kamen 2012 achtundzwanzig Personen um, darunter 20 Kinder. In der Folge gab es einen öffentlichen Aufschrei wegen der falschen Behauptungen Alex Jones‘, betroffene Eltern verklagten ihn und seine Plattform „InfoWars“ und Social-Mediaprofile von Jones wurden geschlossen. Später musste er zugeben, dass seine Aussagen nicht stimmten, er regte sich aber im Vidcast bei Joe Rogan darüber auf, dass man nicht mal einen Fehler machen dürfe. In Folge seiner hasserfüllten radikal rechten Äußerungen waren seine Accounts von YouTube, Twitter und Facebook betroffen, ebenso hatte PayPal sein Konto gelöscht. Alex Jones, der auch den Klimawandel leugnet, hatte auf YouTube 2,4 Millionen Abonennten und auf Twitter fast 900.000 Follower. Jones hatte bereits vor der lebenslangen Twitter-Sperre eine einwöchige Sperre erhalten, nachdem er indirekt zu bewaffneter Gewalt gegen Medien aufgerufen hatte. Auch Facebook hatte seine Inhalte, nicht aber sein Profil, von dutzenden Seiten, bei denen er Administrator war, wegen Gewaltverherrlichung gelöscht. Außerdem waren seine InfoWars-Podcasts auf iTunes und Spotify entfernt worden.

Ben Shapiro und Jordan Peterson

Während Alex Jones in seinen Sendungen meist schreit und sich in Hasstiraden hineinsteigert, Steve Bannon mit Intellektuellem-Anstrich den verständnisvollen Wolf im Schafspelz gibt, spricht der Vortragsredner und Buchautor Ben Shapiro elequent und konfrontativ über kontroverse Themen wie „Abtreibung“ oder „Transgender“. Jordan Peterson widmet sich der Stärkung orientierungsloser Männer, indem er ihnen ein streng konservatives Weltbild vermittelt, in dem das radikal Linke für alles Schlechte in der Welt verantwortlich sei. Das seiner Meinung nach möglicherweise schlechteste an Donald Trump sei dessen Ausdrucksweise, Feminismus ein verfehtes Bestreben, die Kritik an Männern rein politisch motiviert. Peterson oder Shapiro sind die intellektuelle konservative Sperrspitze einer rechtsgerichteten Bewegung, die den politischen Kontrollverlust durch ein wieder einfaches und klares Wertesystem erstzen will. Bei Ben Shapiro ist dieses Wertesystem religiös geprägt, bei Jordan Peterson patriarchal. Beide sind gern gesehene Gäste beim populistisch agierenden Sender Fox News, dem Quasi-Haussender der Republikaner.

Das Intellectual Dark Web und seine Protagonisten

YouTube, die Podcastszene und politische Fernsehsendungen sind inzwischen von zahlreichen politischen Kommentatoren durchdrungen, die einseitig polarisieren und oft rechtslastig sind. Manche von ihnen haben die Schattenseiten des Systems zu spüren bekommen, etwa wenn sie wie Jordan Peterson oder Sam Harris mit dem akademischen Betrieb wegen ihrer Meinungen in Konflikt gerieten. Sie mussten feststellen, dass Meinungsfreiheit monentan eine Fiktion ist. Wobei Sam Harris politisch linksorientiert ist, ebenso wie Podcaster und Vidcaster Joe Rogan oder Bret Weinstein. Letztere bilden mit anderen eine informelle Gruppe, die von den Medien „Intellectual Dark Web“ genannt wird und eine Webseite hat. Den selbstironisch gemeinten Namen hat Eric Weinstein geprägt, Bruder von Bret Weinstein,  Mathematiker und Managing Director der Investmentfirma Thiel Capital von Trump-Unterstützer Peter Thiel. Insgesamt beherbert diese Gruppe mehr rechtsorientierte Mitglieder. Aber der gemeinsame Nenner ist der Umstand, dass viele sich nicht in die starren Rechts-/Links-Raster einordnen lassen wollten und anecken. Die dann folgenden Konsequenzen durch politische Polarisierung polarisiert immer weiter.

Ann Coulter und Milo Yiannopoulos: Provokation bis zur Beleidigung

Manche politischen Kommentatoren provozieren im Sinne einer medialen Aufmerksamkeitsausbeute ganz bewusst, und oft hat das auch finanzielle Gründe, um etwa ein neues Buch zu promoten. Auch die am rechten Rand agierende Buchautorin und politische Kommentatorin Ann Coulter verbreitet pointierte Meinungen: Demnach seinen „Femministinnen wütende, Männerhassende Lesben“ (Feminists are angry man-hating lesbians). Der ebenso weit rechte Milo Yiannopoulos, der zusammen mit Ben Shapiro bei Steve Bannons „Breitbart-News“ tätig war, bläst in dasselbe Horn, wenn er meint, Feministinnen seien „hässlich“. Das Prinzip ist die Polarisierung: Es werden Botschaften in Medien abgesondert, die verunglimpfen und nur auf den Skandaleffekt ausgerichtet sind. Mit diesem Mittel der Provokation, zugespitzten Agitation bis hin zur Beleidigung arbeiten viele der rechten Kommentatoren. Auch ansonsten seriös argumentierende Redner wie Ben Shapiro oder Jordan Peterson wählen Reizthemen und mögen die Provokation sowie die Verdichtung kritischer Inhalte. Milo Yiannopoulos wurde, nachdem er sich nach dem Massaker in Neuseeland in Christchurch über den seiner Meinung nach „barbarischen“ Islam ausgelassen hat, ein Visa und damit die Einreise nach Australien verweigert.

Fehlender Meinungsaustausch

Das tief gespaltene Amerika ist wie immer im Verhältnis zu Europa ein paar Jahre in der Zukunft. Wie im Laborversuch kann man dort sehen, was geschieht, wenn führende Politiker wie Donald Trump Fakten leugnen, die Lüge zum probaten diskursiven Mittel erklären und ihre Wähler aufstacheln. Dem Virus des aggressiven Reagierens sind inzwischen beide Seiten verfallen. Eine politische Meinung gleicht inzwischen einem Glaubensbekenntnis innerhalb eines heiligen Krieges. Überall auf der Welt wird der Islam stigmatisiert, das erinnert fatal an die Stgmatisierung der Juden vor und während des zweiten Weltkrieges. Die Polarität der Meinungen ist erschreckend, weil ein Austausch kaum noch stattfindet.

Vereinbarungen schaffen Realitäten

Über all die Auseinandersetzungen hinweg wird vergessen, dass all das, was wir für real und wahr halten, auf Vereinbarungen und Übereinkünften basiert. Man kann zum Beispiel nicht sagen die Erde ist rund, sondern: Wir haben uns darauf geeinigt, dass die Erde rund ist, weil die Wissenschaft evidente Beweise dafür angeführt hat. Wer leugnet, dass die Erde rund ist und behauptet, sie sei in Wirklichkeit eine flache Scheibe, tritt heraus aus der Konsensgemeinschaft. Er tut das in der Regel nicht, weil ihm an der Erde gelegen ist. Es geht um das Erlangen von Aufmerksamkeit in Opposition zur vorhandenen Gemeinschaft. Eine Politik, die sich von ihren Wählern abgespalten hat und ein Vakuum hinterlässt, begünstigt über das Web verbreitete Meinungen, die inform alternativer Fakten erscheinen. Vorhandene und neue Technologien begünstigen es immer mehr, selbst Fotos und Videos täuschend echt zu manipulieren. Gefaketes wirkt inzwischen so real wie Echtes. Es ist sehr einfach, Vereinbarungen für nichtig zu erklären. Über das Internet findet man garantiert Gleichgesinnte, wo man vorher isoliert blieb.

Was ist Realität, was Fiktion?

Verschwörungstheoretiker wie Alex Jones verwischen professionell und mit großem Zuspruch beim Publikum die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Das klingt wie aus dem Handbuch für Populismus: Auf Desinformation folgt Verunsicherung, während der Verunsicherung wird ein Sündenbock präsentiert, dem man die Verantwortung für alles schlechte in der Welt andichtet. Das sind weltweit die Muslime. Danach sickern neue Gesetze und Strukturen ein, die das Antlitz der Gesellschaft evolutionär verändern. Die Grundlage dafür bildet eine fehlende gesellschaftliche Übereinkunft über Schlüsselthemen. In den USA sind Klimaleugner an der Macht, deren Ideologien jede Sachdiskussion im Keim ersticken. Make America great again – und wenn auch nur für ein paar Jahre. Es fehlt im Moment an Persönlichkeiten, die Meinungen wieder zusammenführen, die einen, die Interessen abgleichen und sozialen Frieden wiederherstellen.