Narr

Jeder Mensch kennt Geschichten. So fundamental ist der Zusammenhang zwischen Leben und Geschichten erzählen, dass man behaupten darf: Mensch und Geschichte sind aneinander gekoppelt. Dabei hat die Technisierung der Kommunikation eine Medienwelt erschaffen und die Medienwelt ist nichts anderes als ein Geschichten-Automat.

Gerne wird das kontrastierende Bild vom Erzählen von Geschichten am Lagerfeuer in der Steinzeit heraufbeschworen und heutzutage unser Leben vor dem Bildschirm: Erst vor dem monolithischen stationären Bildschirm in Form des Fernsehers als Empfangsgerät. Dann auf die Bildschirme der Vernetzung über das Internet, dem Ende der Einwegkommunikation. Der Strom des Bewusstseins in jedem Menschen wurde dadurch erweitert um den Wechsel-Strom des vernetzten Bewusstseins.

Erzählte Geschichten und psychologische Narrative

Geschichten werden erzählt und angehört. „Geschichte“ heißt mit einem anderen Wort „Narration“. Aber nicht nur das: die Psychologie geht davon aus, dass jeder Mensch sich selbst und anderen ein „Narrativ“ erzählt. Das ist eine Sammlung von Geschichten, die den Erzähler selbst beschreiben und zudem das eigene Ich in der Welt der Menschen und Dinge verorten. Der Mensch erzählt zum Beispiel Liebesgeschichten oder Helden-Geschichten, in denen er selbst etwas erlebt oder geleistet hat. Er erzählt sich suggestiv auch Geschichten, die ihn selbst davon überzeugen, etwas wert zu sein, etwas zu können, etwas zu bewegen, etwa wie gut er Ziele erreichen kann. Grundsätzlich geht es i solchen Geschichten auch darum, jemand zu sein, überhaupt vorhanden zu sein und Aufmerksamkeit zu bekommen. Ein Soldat wird von den Heldentaten im Krieg berichten oder davon, wie unnütz und dreckig der Krieg ist. Ein Tierpfleger hat Geschichten parat, wie er das Zutrauen eines Tieres gewonnen hat. Ein Politiker wird in seinen Memoiren schildern, wie er einen Konflikt managte bzw. verhindert hat oder warum er ihn nicht verhindern konnte. Selbst die Nicht-Helden-Geschichten, in denen es keinen Gewinner gibt, zeugen von etwas: etwa von der rückhaltlosen Wahrheitsliebe des Erzählers, von seinem Wunsch, sich selbstkritisch zu betrachten – als Heldentat im Kleinen.

Selbstbild-Vehikel „Narration“

Die Geschichte, die scheinbar also nur eine Handlung oder Ereignisse abbildet, ist ein Definitions-Vehikel, ein Vehikel für die Definition der Welt, der Menschen, des Selbst. Denkbar sind Geschichten, die man improvisiert aus dem Ärmel schüttelt oder Geschichten, die wohl durchdacht und kunstvoll konstruiert sind, deren nahezu perfekte Dramaturgie den Zuhörer begeistert. Solche Geschichten sind besonders einprägsam. Zu bedenken ist jedoch, dass eine „Geschichte“ nicht tatsächlich der Form nach eine Geschichte sein muss. Das Narrativ der Psychologie meint nicht unbedingt die Geschichte im klassischen oder auch nicht im ungefähren Sinne. In der Psychologie bestehen Geschichten eher aus einzelnen Versatzstücken, etwa auch aus Floskeln, bestimmten Metaphern als Sprachbildern, allgemein aus all jenen sprachlichen Teilen, die auch indirekt beschreiben, wer man ist. Selbst wenn man als Handelnder in einer Geschichte nicht vorzukommen scheint, suggeriert man mit der Art sie zu erzählen und welche Bilder mal mit Worten malt, etwas über sich. Manchmal knüpft man einen kunstvollen Teppich, ohne dass einem anderen klar ist, dass dieser Teppich überhaupt vorhanden ist.

Geschichten als manipulatives Werkzeug

Wie wichtig Geschichten sind, sieht man daran, dass auch Manipulatoren oder Betrüger mit geschickt vorgetragenen Geschichten Illusionen erzeugen können. Geschichten transportieren ebenso positive Emotionen: Glücksgefühle oder Hoffnung. Sie stimmen den Leser, Zuhörer oder Zuschauer atmosphärisch ein. Der Klassiker der Zuversicht in Film und Roman ist das Happy End. Ob vor dem Gottesdienstbesuch oder dem Genozid: Vorläufer und Begleiter sind stets Geschichten – wahre und unwahre, realistische oder eingebildete, angenommene oder bewiesene. Große Geschichtenerzähler sind:

  • Politiker wie Adolf Hitler oder Donald Trump, die sich ein komplett konstruiertes Paralleluniversum zu Nutze machen
  • Künstler wie Frida Kahlo oder Gilbert und George, die ganz eigene Bildwelten schufen
  • Entertainer wie Dirk Bach vom Dschungelcamp oder Stefan Raab von TV Total
  • Moderatoren wie Markus Lanz oder Dieter Bohlen
  • Philosophen wie Peter Sloterdijk oder Richard David Precht
  • Wissenschaftler wie Julian Jaynes oder Arno Gruen
  • Aktivisten wie Julian Assange oder Edward Snowden

Narrative Selbstdarstellung

Unter dem Blickwinkel der Narration ist der Mensch ein permanenter Selbstdarsteller, allerdings nicht nur das, sondern er will anderen über das Geschichten erzählen Philosophien, Erkenntnisse, Einsichten, Gefühle oder Gedanken über das Menschsein und die Welt, in der der Mensch lebt, vermitteln. Solche Vermittlungsversuche sind inzwischen verschriftlicht Märchen, Sagen und überlieferte Erzählungen, auch Romane, die komplexe Inhalte transportieren, oder Gedichte, die Gefühle und die Individualität der Wahrnehmung betonen.

Textoberfläche und Subtext

Bleibt man jedoch bei der Narration als ganz klassischer Erzählung etwa in Form einer Kurzgeschichte, einer Erzählung, Novelle oder eines Romans, dann muss man feststellen, dass Geschichten heute auf Knopfdruck verfügbar sind. Jeder Liedtext erzählt eine Geschichte, jeder Podcast, jeder Film und jede Serie. Dabei gibt es die vordergründigen Bestandteile der Erzählung, in der meistens Menschen handeln und denken und einem Ziel zustreben. Es gibt aber auch weniger offensichtliche Subtexte. So erzählen alle amerikanischen Blockbuster vom Heldentum und von der Stärke des Zusammenhalts der Nation. Oder es wird wie selbstverständlich der Macht der Waffengewalt gehuldigt oder Selbstjustiz propagiert. Also erzählt selbst ein profaner Film mehrere Geschichten parallel. Er ist in seinen versteckten oder weniger offensichtlichen Botschaften suggestiv.

Geschichten erzählen über Bilder

Während in vergangenen Zeiten das Geschichten erzählen von Mensch zu Mensch eine persönliche Sache war, also Teil der sozialen Interaktion, ist der Geschichtenkonsum heute automatisiert und inzwischen weg vom Wort und hin zum Bild gelangt. Auf Plattformen wie Instagram erzählen Nutzer über sich nur noch in Form von Visualisierungen meist als Fotos. Die Bilder sind codiert, das heisst sie enthalten Zeichen, die der Betrachter automatisch entschlüsselt, in Form der Art des Schminkens, des sich-Kleidens, von Posen und der Art sich zu fotografieren, die dem Betrachter non-verbale Geschichten erzählen: etwa wie hip, cool und erfolgreich man ist, wie angesagt und nachgefragt.

Realtime-Narration

Dabei stellt die Technik eine hohe Geschwindigkeit sicher, die das Geschichten erzählen und seine Relevanz verändert. Denn nun sind die Geschichten genau dann da, wenn man sie wünscht. So ist etwa bei Livestreams eine Echtzeit-Erzählweise möglich. Die Technik der Vernetzung stellt auch sicher, dass ohne Orts- und Zeitbindung sieben Tage 24 Stunden lang Geschichten konsumiert werden können, wo immer man sich aufhält – das Smartphone macht’s möglich. Wer sich Social Media, dem Web und ständiger Erreichbarkeit entzieht, kommt in diesem automatischen Geschichtengenerator nicht mehr vor.

Soziale Ausgrenzung durch Technik-Unerreichbarkeit

Das ist tendenziell neu. Denn sicher war es immer möglich, sich sozialer Kontaktaufnahme zu entziehen. Wenn das Mittel der sozialen Interaktion und des sozialen Geschichten erzählens allerdings grundlegend das Web ist, wäre man doppelt abgeschnitten: wenn technologisch, dann zwangsläufig auch sozial. Denn wer kein Handy hat, kann die Narration über das Soziale Netzwerk oder über den Messenger als kommunikatives Gruppenwerkzeug gar nicht erst nutzen. Sofern die jeweilige Plattform jedoch der Standard sozialer Interaktion ist, ist also ein Nicht-Technisierter im Hintertreffen. Das wäre das Gegenteil des unausgesprochenen Versprechens kommunikativer Technik, nämlich die Menschen zusammen zu bringen.

Geschichten-Verfügbarkeit und Gefühls-Chaos

Geschichten zu erzählen und zu erfassen ist heute ein Austauschprozess der Wechselseitigkeit. In der alten Medienlandschaft gab es einen Sender und einen Empfänger, der jedoch nur über sehr eingeschränkte Möglichkeiten verfügte, auf die gesendeten Geschichten zu reagieren. In der neuen Medienlandschaft sind senden und empfangen in ihrer Permanenz kaum noch voneinander zu unterscheiden, weil sie in einem  Rahmen relativer Gleichzeitigkeit existieren. Menschliche Kommunikation, die ihrem Wesen nach intuitiv vonstatten geht, findet ihre Entsprechung in der Echtzeitkommunikation, die augenblickliches und direktes Reagieren möglich macht. Nirgendwo sonst sind die technologischen Möglichkeiten mit der menschlichen Intuition bereits so eng verschmolzen wie beim Geschichten erleben über das Netz und die direkte Rückkopplung in das Web hinein. Shitstorms und Haterwellen zeigen, wie emotional die Möglichkeiten der Technik genutzt werden – und zwar genauso unmittelbar wie das Web zum Geschichten-Automat geworden ist, der nicht mehr aufhört, Geschichten zu erzählen und dabei manchmal einen Emotionslos-Tsunami auslöst.