KopfzelleManchmal, wenn man einen Film ansieht, stellt sich das seltsame Gefühl ein, in einem Traum zu weilen. Oder Größenwahnphantasien, die man nachts träumend durchlebt, erinnern fatal an die Superhelden von Marvel und DC, ob im Comicheft oder im Film. Der Film erscheint so als Fortführung des Träumens mit anderen Mitteln. Doch nicht nur der Film ist ein fortgesetzter Traum.

Überall, wo es um Imagination und Phantasie geht, kommt der Traum als Grundlage ins Spiel. So haben bildende Künstler wie Franz Radziwill, Salvador Dali oder Max Ernst Träume, Trauminhalte oder Traumsujets zum Gegenstand ihres künstlerischen Wirkens in der Malerei gemacht. Die Phantasiewelten des Träumens lassen uns die Wirklichkeit verarbeiten. Der Künstler, der sich des Traumes bedient, taucht hinab in sein Inneres.

Alfred Hitchcock und Salvador Dali kooperieren

Bemerkenswert ist zum Beispiel auch die Zusammenarbeit des Regisseurs Alfred Hitchcock mit dem Maler Salvador Dali (1904-1989) beim Film „Spellbound“ (deutscher Titel: „Ich kämpfe um dich“), der von einem Arzt handelt, der unter Gedächtnisverlust leidet und sich immer wieder in traumartigen Sequenzen oder tatsächlichen Träumen an seine verschüttete Vergangenheit erinnert. Hier war der Traum tatsächlich Gegenstand des Filmes. Salvador Dali als Surrealist hat gestalterisch Teile der Traumsequenzen beigesteuert. In seinem Werk hat er sich mit den Themen des Unbewussten und der Motiven der Traumdeutung durch die Psychoanalyse befasst. 1938 hat er Sigmund Freud, den Vater der Psychoanalyse, besucht.

Der Traum als narratives Schema

Ganze Film- oder Medien-Genres profitieren von den Inhalten und Schemata des Traumes, etwa die Märchen und Sagen oder das Thriller- oder Horrorgenre vom Alptraum. Auch Superhelden-Geschichten gemahnen an maskuline Allmachtsträume oder erotische Filme an sexuell motivierte Träume. Im Traum kommt das Ich sich selbst auf eine andere Weise näher, in der sich Fühlen und Denken zu etwas im Alltag weniger Relevantem verbinden. Das stellt eine Brücke zur Kunst dar, die ebenfalls eine ich-kommunikative Ausdrucksform zwischen Fühlen, Denken und Imagination ist. Der Traum ist das Medium der Möglichkeiten. Hier werden kreativ und scheinbar ungeordnet ungewöhnliche Geschichten in der Ich-Perspektive durchlebt.

Kunst als Traum-Raum

Interessant ist es, Kunst zu betrachten, die nicht etwa den Traum oder das Träumen ansich behandelt oder als Motiv ausarbeitet, sondern in ihrem Symbolgehalt oder ihrer eigenen Stilistik wenig mit der üblicherweise wahrgenommenen Realität zu tun hat. Diese Kunst verändert den Gegenstand der Betrachtung formal und rückt ihn so in ein anderes Licht, das der erlebten Realität nicht gleich ist. Die Physiognomien der Menschen in Egon Schieles Bildern, Zeichnungen und Skizzen etwa scheinen etwas nahezulegen, was nicht aus der erlebten Wirklichkeit stammt sondern aus einem anderen Wahrnehmungs-Raum. Das Traumhafte war bei Schieles Vorbild Gustav Klimt augenfälliger, doch kann man Schieles Stilistik wie einen Filter verstehen, den er zuweilen realitätsbrechend und analog zum Vorgang des Träumens über die Wirklichkeit legt. Gemälde von Pablo Picasso, René Magritte, Zeichnungen von Aubrey Beardsley und Comics und Illustrationen von Moebius oder Barry Windsor-Smith scheinen vom Traum inspiriert, von einer Welt des Anderen, des Parallelen oder des eigentlich Unmöglichen.

Blockbuster mit Traumqualitäten

Fast alle neuen Videospiele oder Hollywoodblockbuster nutzen hochauflösende ultrarealistische CGI-Technik mit all den Special Effects nicht dazu, eine inhaltlich realistische Geschichte zu erzählen. Meist steht die Technik, die Erfundenes oder Phantastisches Form annehmen und realistisch aussehen lässt, im Dienste einer Narration, die oft deutlich traumähnliche Geschichten erzählt. Der Traum scheint von so grundlegender Bedeutung für den Menschen zu sein, dass er fortgeführt wird: Im Film, in der bildenden Kunst und oft hat es den Anschein, als würden Teile der Kultur den Traum und seine Sichtweisen im Großen nachbilden: als eine zweite Welt, die Fluchtmöglichkeiten aus der Wirklichkeit bietet oder den Betrachter das nicht Mögliche, das Unwahrscheinliche und Abstruse durchspielen lässt. Diese Welt ist weder realistisch noch unrealistisch, sie wirkt surreal und kommt damit formal geglättet der Kunstrichtung wenn auch mit völlig anderen Mitteln nahe. Während Bildende Kunst oft die Phantasie des Betrachters anregt, nimmt der Blockbuster dem Betrachter seine Phantasie aus der Hand und bildet sie als gigantische Traumsequenz nach. Leben und Traum sind so mehr und mehr kulturell verwoben und durchdringen sich gegenseitig. Träumen wir die Gesellschaft, in der wir leben, weitestgehend oder leben wir sie tatsächlich? Und was geschieht mit dem eigentlichen Träumen, wenn die Kultur selbst traumdurchdrungen ist?

Weitere Kunsttagebücher:

  1. Was ist Kunst? Und warum nicht?
  2. Als die Nacht aus dem Blickwinkel des Tages unterbelichtet wirkte
  3. Warum Eitelkeit zur Kunst gehört und doch ihr Untergang ist
  4. Ziellosigkeit als Grundlage assoziativer Prozesse
  5. Kopfkino oder zeigen und weglassen im anspruchsvollen Film
  6. Warum die Größe einer Zeichnung ihre Aussage verändert
  7. Wann Form ein Inhalt sein kann
  8. Was könnte das sein?
  9. Gedanken-Gefühls-Bilder innerhalb einer Formgenese
  10. Die Welt ist voller Möglichkeiten oder Zufall und Entscheidung in der Kunst
  11. Über das „Zuviel“
  12. Wiederholung als Formoptimierungs-Prozess
  13. Der assoziationsoffene Raum
  14. Kunst und technisch-handwerkliches Können: Warum es besser ist, nichts zu können
  15. Methoden der Kunst: Durch Wegnehmen und Hinzufügen Bedeutungen erschaffen
  16. Der Kunsst
  17. Was ist Kunst?
  18. Künstler-Selbstbild: Skizze eines zufallsgesteuerten Lebens ohne anarchistische Romantik
  19. Beliebigkeit als Kunstprinzip: Über die vermeintliche Sinnlosigkeit assoziativer Folgerichtigkeit
  20. Langlauf oder Kurzstrecke? Das Intervall in der Kunst
  21. Der Künstler: Ein Assoziationsautomat
  22. Zeichnen und die Macht des Zufalls
  23. Vorhersehbarkeit und Offensichtlichkeit – über die Langeweile in der Kunst
  24. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  25. Hinz- und Kurzgeschichte: Als der Unterhaltungskünstler den ernsthaften Künstler traf
  26. Über die metaphorische Schwangerschaft der Bilder
  27. Über das Vorläufige und das Endgültige in der Kunst
  28. Warum Kunst ein Virus ist
  29. Kreieren und wiederholen: Warum Kunst nicht kreativ ist
  30. Das Unverwechselbare in der Kunst als Ausdruck der eigenen Unfähigkeit
  31. Das Ungefähre als das nicht Greifbare
  32. Offenheit, Inspiration, Assoziation – über den Wert von Einflüssen in der Kunst
  33. Der blinde Fleck und die Kunst der Betrachtung
  34. Kompetenz und Versagen als sich selbst bedingende Gleichzeitigkeit
  35. Kunst als Selbstdialog
  36. Ordnung und Chaos als Polaritätskonzept künstlerischen Wirkens
  37. Die Überforderung
  38. Eindeutigkeit und Wahrnehmung in der Kunst
  39. Kunst als Sprache
  40. Der Mangel als Ansporn
  41. Bedeutung und Orientierung als Ziele der Kunst
  42. Selbstbild und Seins-Inszenierung
  43. Kunst als Chiffre der Notwendigkeit
  44. Idealismus oder Materialismus – Geld oder Leben!?
  45. Die Maslow-Bedürfnis-Pyramide oder fühlen und durchleben in der Kunst
  46. Jenseits der Worte
  47. Wahrheit und Verdrängung
  48. Das Gefühl für die Dinge oder von der Schwierigkeit, Kunst zu definieren
  49. Zwischen Selbsttransformation und Fremdwahrnehmung
  50. Die Absolutheit der Ich-Perspektive
  51. Fehler machen als „Sesam-öffne-dich“
  52. Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen
  53. Jede Regel will gebrochen sein
  54. Die Intrinsik als Wesenszug