Begrenztheit

Es ist wie bei einer Geburt: Zunächst ist kaum etwas da, dann wird etwas daraus. Es wächst und wird größer. Aus der Absicht entsteht etwas Reales. Es wird manifest, erlebbar, verwendbar. Dabei ist der Anfang vielleicht klein, wenig greifbar und erscheint unbedeutend. Es kann ein Strich sein, ein gefaltetes Papier und je weniger es ist oder bleibt, desto stärker wird mitunter die Fantasie angeregt.

Manchmal kann es sogar (fast) ein Nichts sein. Mit den richtigen Worten drum herum, wird es zu etwas. So könnte unser Universum entstanden sein und so entsteht Kunst: Zuerst ist scheinbar nichts da, nur ein Gedanke, eine Absicht, eine Leidenschaft oder im Falle des Universums ein paar Atome oder etwas Energie. Auch ein Künstler könnte etwas schaffen, was plötzlich physisch oder physikalisch greifbar ist. So wie ein Autor einen Gedanken hat, der zu Text wird, den man schließlich lesen kann.

Alles oder Nichts in der Unergründlichkeit

Wie aber kann es sein, dass aus dem Nichts etwas entsteht? Wie ist Wachstum möglich? Eigentlich ist die Antwort, wenn man Anfang und Ende zunächst unberücksichtigt lässt, trivial: Es gibt keine zwei Kategorien „Nichts“ und „Alles“, es gibt nur Werden und Vergehen von „Etwas“. Dieses „Etwas“ ist irgendetwas, das sein Form ständig verändert und wandelt. Und Wandel ist Wachstum und Absterben, wobei Wachstum der Anfang und Sterben das Ende wäre. Allerdings nie ein endgültiges, weil das Verstorbene stets wieder Bestandteil neuen Lebens werden würde. Das heißt: der lineare Ansatz würde schon hier die Realität nicht erfassen können.

Gegenständliches und Ungegenständliches

Beschreiben ließen sich alle Prozesse physikalisch durch ihre energetischen Prozesse, also etwa durch niedrige und hohe Energieniveaus. Leben und Tod, Anfang und Ende wären eine Frage von Energie, die sich ständig und nicht klar abgegrenzt wandelt, mal zu Materie wird, mal Hitze ist, sich mal verflüchtigt. Würde man also die Brille eines außerordentlich gesegneten Künstlers aufsetzen und alles, was es gibt, durch diese Energie abbildende Brille betrachten, sähe man nichts Gegenständliches mehr, weil alles materiell Manifeste reine Energie wäre. Wer wollte bei dieser Betrachtungsidee nicht an den Kubismus oder allgemein an die ungegenständliche Kunst denken, die eher Zustände und Abläufe als konkrete Dinge abbildet?

Anfang und Ende, Ursache und Wirkung

Schwierig wird der Gedanke, wo wir herkommen und wohin wir gehen werden, erst, wenn man im linearen Denken der Ursache und dem Ende aller Abläufe Herr werden will. Denn im linearen Denken muss es einen Anfang als Ursache von allem geben. Ein Nicht-Anfang oder Nicht-Urgrund ist nicht denkbar, weil er zur Folge hätte, dass wir nicht existieren. Selbst wenn wir im eigentlichen Sinne nicht vorhanden wären, sondern nur Projektionen, Hologramme oder der Traum eines schlafenden Riesen, würde es Projektor, Hologramm-Erzeuger und den Träumenden geben müssen und wieder wäre die Frage: Wo kommt er her und wie ist der entstanden?

Lineares, vertikales, laterales oder divergentes Denken

Daraus folgt, dass wir mit unserem linearen Denken – oder vertikalen Denken, das unabweichlerisch Schritt für Schritt in einer festgelegten Reihenfolge vorgeht – dessen Grundlage die Abfolge von Ursache und Wirkung ist, nicht weiterkommen. Selbst das divergente Denken, das chaotischer und nicht gradlinig vorgeht, sondern einen kreativen Weg nimmt, kommt nicht um das Problem des Anfangs und der möglichen Unendlichkeit herum. Eine Form von divergentem Denken ist das sogenannte „laterale Denken“, das Querdenkern zugesprochen wird. Aber auch Querdenker können weder das Nichts noch die Unendlichkeit denken.

Der Künstler als Apologet des Chaos‘

Künstler sind in der Regel wenn sie nicht Piet Mondrian oder M. C. Escher heißen, divergente oder laterale Querdenker und chaotisch denkende Querfühler, die Antworten auf Probleme, denen Logik und Linearität nicht beikommen, im Unbewussten suchen und zum Beispiel malend auf die Leinwand bannen. Überhaupt könnte man sagen, dass die großen Menschheitsfragen letzter Hand nicht mit Fakten zu beantworten sind. Die Kunst hat die Möglichkeit, eine Stimmung einzufangen und symbolisch zu vermitteln: Ausweglosigkeit, Hoffnung, Begrenztheit oder Bewusstsein, das Nichts oder das Allumfassende sind in Erfahrungsräumen des Lebens vielleicht fühlbar aber nur darstellbar in der Kunst, denn Kunst ist Empfindung und Ausdruck dieser Empfindung. Edvard Munchs „Der Schrei“ hat eine Ausdruckskraft, die die Aneinanderreihung oder Aufeinanderstaplung von Fakten nicht zu Wege brächte.

Das vernetzte Denken

Aber eigentlich – vom Begriff des chaotischen Denkens einmal abgesehen, das man in der Chaostheorie verorten kann und das somit einen Hintergrund mit Hand und Fuß hat, der allerdings wiederum zu Ende gedacht ins Grauen der Unbestimmtheit der Unendlichkeit mündet – sind lineares, laterales oder divergentes Denken keine Modebegriffe. Die Gunst der Stunde schlägt vielmehr für das „vernetzte Denken“. Denn technologisch längst ermöglich und dafür erdacht, hat das Web als Netzwerk auch die Qualität des Denkens verändert. Ein Gedanke und seine Gegenthese treten nicht mehr singulär auf sondern vielfach variiert. Das vernetzte Denken hätte in einer Kopplung aus Qualität und Quantität die Möglichkeiten, die Mannigfaltigkeit der Realität abzubilden. Jeder Gedanke findet irgendwo im Netz seine Variation und die wiederum ihre Unter-Variation. So würde es auf elementale Fragen eine Fülle an Antworten geben, die nicht nur ständig und kontinuierlich erfolgen sondern auch ständig rezipiert werden können, weil man nun im Netzwerk den vernetzten Denkern zusehen und zuhören kann. Denken und Widerdenken, inspirieren und inspiriert werden, sind näher zusammengerückt und bilden so nahezu ein Einheit.

Die Realität denken und fühlen

Was für den Denker recht ist, ist für den Künstler billig. Ein ungegenständliches, abstrahiertes Gemälde könnte das Nichts einfangen. Nicht rational oder mit der Abbildung seiner materiellen Gestalt (was ein Widerspruch in sich wäre) sondern per Gefühl, das ein Mensch empfinden würde, dächte er an das Nichts. Das Nichts würde so nicht gegenständlich abgebildet sondern über ein immaterielles, flüchtiges und nicht greifbares Fühlen, das der Künstler flüchtig spürt und über seine Malerei dem Betrachter vermittelt, der auf diesem Weg das Nichts empfinden könnte. Wäre dies möglich und erreicht, wäre die Kunst der Wissenschaft überlegen, wenn auch in einer der Wissenschaft methodisch fremden Disziplin: dem Fühlen der Wirklichkeit.