WeihnachtsbrauchFoto: Barbara Ward

Dennis hatte einmal erzählt, dass ihm ein Ball ins Schlafzimmer seiner Eltern gerollt und unter deren großem Bett verschwunden war. Es hatte eine schwere Tagesdecke darauf gelegen und als er vom Flur, wo er gespielt hatte, in das Zimmer getreten war, konnte er sehen, dass sich die Decke am unteren Rand bewegt hatte. Sie schwang noch etwas umher, dann hing sie still herunter.

Dennis hatte den Ball darunter einfach liegen gelassen, weil er sich nicht getraut hatte, in die Dunkelheit unter dem Bett zu schauen – geschweige denn zu kriechen. So dunkel war es unter dem Bett, dass man dort die Dunkelheit wie einen pechschwarzen Käse in Stücke hätte schneiden können und dennoch wäre dahinter nur eine noch schwärzere Schwärze zum Vorschein gekommen. Außerdem war unter dem dicken Bett an der Wand kaum ein Ton zu hören gewesen. Matratzen und Decke verschluckten gefräßig jeden Ton von außen. Einmal, es war lange her gewesen, hatte er sich darunter versteckt und plötzlich Angst bekommen. Er hatte sich gewunden, als hätte ihn jemand daran hindern wollen, rauszukriechen, er hatte sich eingeengt gefühlt und kniete schließlich mit Schweiß auf der Stirn heftig atmend auf dem Boden vor dem Bett. Dann hatte er gemeint, ein fremdes Geräusch zu hören, eine Kratzen wie von Klauen auf einem Holzfussboden, und er hatte plötzlich die Vorstellung, zwei Hände von unter dem Bett würden ihn an den Knöchelnn zurück in die Dunkelheit ziehen wollen. Seitdem hatte er das Versteck gemieden.

Ich bin Ina und Dennis, über den ich gerade erzähle, ist mein bester Freund. Wir haben viel gspielt in letzter Zeit, und einmal, als seine Eltern nicht da waren, haben wir verstecken gespielt und er hat gesagt, dass ich mich überall verstecken könne, nur nicht unter dem Bett. Ich habe ihn gefragt, warum. Er hat mir geantwortet, dass er das Gefühl hätte, dass nichts, was dort hinunter geraten würde, wieder hinaus könne. Und wenn, dann wäre das Glückssache und niemand solle sein Glück zu sehr herausfordern. Später hatte er eine Schublade in seiner Kommode aufgezogen und einen Stapel kleiner Blätter hervorgeholt. Darauf hatte er seltsame Monster gezeichnet. „Hast du die gezeichnet?“ hatte ich ihn bewundernd gefragt. Er hatte bejaht und gesagt, dass alle diese Wesen unter seinem Bett lebten aber nur herauskämen, wenn es Nacht sei und er alleine wäre.

Puh! Ich hab etwas gezittert. Morgen ist Weihnachten. Dennis und seine Eltern feiern mit uns. Er hat keine Großeltern mehr und meine und seine Eltern verstehen sich gut. Papa hat einen Weihnachtsbaum mitgebracht, einen Nadelbaum, dessen Zweige bis zum Boden hängen und praktisch blickdicht sind. Man kann nicht sehen, was sich darunter befindet. Dennis hat Angst vor dem Baum, er hat gesagt, er erinnert ihn an die Dunkelheit unter dem Bett. Ich habe ihn gefragt „warum?“, aber er hat nur geantwortet, wenn man schnell aus dem Flur barfuss um die Ecke ins Wohnzimmer laufen würde, könnte es durchaus sein, dass man mit zuviel Schwung das Gleichgewicht verlieren und ohnmächtig unter dem Baum landen würde. Dann würde die Familie Weihnachten feiern, ohne sehen zu können, dass er unter dem Baum lag. Man würde ihn draußen suchen, die Polizei würde Flugblätter drucken und lange im neuen Jahr, wenn der Baum seine Nadeln verloren haben würde, würde man sein Skelett vorfinden.

Richtig, Dennis hat einen ziemlich schwarzen Humor. Er ist ein lustiger Typ, wir lachen den ganzen Tag zusammen. Immer wenn wir durch das Wohnzimmer geflitzt sind, hab ich nach dem Baum gesehen, der aussah wie eine Frau mit nach unter hin weit ausgestelltem Kleid, das bis zum Boden reichte. Ein Kleid, wie Frauen das im vorletzten Jahrhundert getragen haben, in Glockenform.

Ich bin Dennis. Ich habe kein eigenes Zimmer, weil ich noch zu klein bn. Dafür habe ich einen großen Koffer, in dem alle meine Sachen sind. Ich trage ihn manchmal mit mir rum im Haus oder ich sage meinen älteren Geschwistern, Papa oder Mama, dass sie darauf aufpassen sollen. Meine Schwester ist jetzt ausserhalb und mein Bruder hört mir nie zu. Es gibt einen Platz in der Küche, wo ich den Koffer in eine Nische stellen kann. Doch kurz vor Weihnachten war der Koffer plötzlich verschwunden, mit allem, was darin war. Ich habe überall gesucht aber Papa hat dann geflüstert, ich solle es niemandem sagen aber er wüsste, wo der Koffer wäre, und ich solle keine Angst haben zu Weihnachten würde ich eine große Überraschung erleben. Ich warte jetzt noch bis Heilig Abend, 24 Uhr. Wenn der Koffer bis dahin nicht aufgetaucht ist, schalte ich die Polizei ein. Ich habe auch ein Schreiben fertig gemacht, an die Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ungelöst“. Darin werden geheimnisvolle Kriminalfälle gelöst. Der Briefumschlag ist schon frankiert, ich muss den Brief nur noch zukleben und einwerfen. Papa hat mir eine Briefmarke gegeben.

Heute ist ein Tag vor Weihnachten und Dennis spinnt total rum. Jetzt sagt er gerade, er würde den Brief in jedem Fall abwerfen, auch wenn der Koffer morgen wieder auftauchen würde, weil das Geheimnis gelöst werden müsse. Das Geheimnis des Verschwindens dieses sehr großen Koffers. Es wäre seiner Ansicht nach nicht möglich gewesen, den Koffer irgendwo im Haus oder in der Garage zu verstecken. Es müsse also jemand von außerhalb gewesen sein. Als ich ihn gefragt habe, was mit den Autos seiner Eltern und deren Kofferraum sei, hat er nur doof geguckt und mit den Schultern gezuckt. Aha, jaja, Mädchen sind nämlich schlauer, obwohl wir gleichaltrig sind.

Ina ist, finde ich, altklug. Sie weiß immer alles besser. Ich hätte es nämlich bemerkt, wenn jemand etwas so großes ins Auto geschafft hätte. Mein Vater lügt nie. Er hätte die Wahrheit gesagt. Ina meint, dass man in Ausnahmefällen schummeln kann, um einen anderen zu überraschen. Dann wollte sie erst nichts sagen, hat sich aber verplappert. Sie meint nämlich, ich würde einen neuen Koffer bekommen, einen supertollen. Ich frage mich, was da noch besser dran sein könnte, vielleicht mehr Fächer für die Spielzeugautos?

Dennis ist nervig. Der einzige Ort, wo er noch nicht nachgesehen hat, ist unter dem Bett und unter dem Tannenbaum. Er hat mich geschubst und gesagt, ich soll unter das Bett kriechen, weil ich größer wäre als er. Vielleicht ein paar Zentimeter, dafür bin ich aber fast einen Monat jünger. Ich weiß nicht, warum ich das machen soll, so traurig ist er gar nicht. Er bekommt ja morgen was. Wir haben uns draußen an die Fensterscheibe hingestellt. Vor den Baum haben wir die Minivideokamera von Dennis‘ Paps auf ein kleines Stativ gestellt. Auf dem Smartphone gucken wir gerade, ob man unter dem Baum etwas sehen kann aber es ist zu dunkel. Dennis hat einen kleinen Roboter mit Roboterauto, die sich fernsteuern lassen. Er hat vorhin beide unter den Tannenbaum gesteuert, dann riss die Verbindung ab und Dennis sah plötzlich ängstlich aus. Das wäre noch nie passiert. Der Roboter ist nicht mehr zurückgekommen. Dennis tat mir leid, ich hab eine Taschenlampe geholt und wollte unter das Bett leuchten, doch dann gaben die Betterien den Geist auf. Ich bin mir aber sicher, dass nichts unter dem Bett gewesen ist, schon gar kein Koffer.

Tim ist der ältere Bruder von Ina. Er hat Ina vorhin ein Bild auf WhatsApp geschickt und da war mein Koffer im Kleiderschrank seiner Eltern zu sehen. Ina hat mir das Bild gezeigt. Sie hat gesagt, das wäre der Beweis, dass ich einen neuen kriege. Wir haben Tim geschrieben, dass er nachgucken soll, ob meine Sachen noch im Koffer sind. Vor allem das Gürteltier und das Nilpferd. Tim hat nachgesehen aber der Koffer war ganz leer. „Siehste?“ hat Ina gesagt. Sie ist der Meinung, das wäre der Beweis dafür, dass ich einen Koffer bekomme. Bestimmt mit Rollen und mit ausziehbarem Griff, mit Innenfächern auf einer Seite und aus ganz stabilem Material.

Kurz vor der Bescherung waren wir ziemlich aufgeregt. Dennis hat sich immer gebückt, um unter dem Weihnachtsbaum sehen zu können aber er konnte wieder nichtss sehen. Alle vier Eltern kamen mit einem feierlichen Gesichtsausdruck ins Wohnzimmer, haben uns angesehen und dann das Licht ausgemacht. Nur ein paar Kerzen haben gebrannt. Dennis und ich haben gezittert, wir haben uns an den Händen gehalten. Jemand hat gesagt, wir sollten die Augen zu machen. Das haben wir getan und dann haben wir gespürt, wie wir an den Händen genommen wurden und Dennis hat geflüstert: „Ich hab etwas Angst“. Ich hab ihm geantwortet: „Das brauchst du ja nicht aber was ist unter dem Weihnachtsbaum?“ Ich weiß, dass er mich angesehen hat. Dann haben wir uns auf den Boden gesetzt und die Erwachsenen haben die Zweige angehoben. Da war ein großes Päckchen, das sie von drunten aus der Dunkelheit hervorgezogen haben. Ich durfte es sofort aufmachen, und darin war eine sprechende Puppe, die ich mir gewünscht habe. Über Mamas Smartphone konnte ich eingeben, was die Puppe alles sagen können soll. Ich konnte Nachrichten aufsprechen und die Puppe konnte mit meiner Stimme sprechen.

Dann haben die Arme der Erwachsenen im Halbdunkel getastet. Dennis war enttäuscht, als ein ganz flaches Geschenk zum Vorschein kam, nicht mehr als ein schmaler Umschlag in Geschenkpapier. Dennis hat den Umschlag aufgemacht. Darin war nur ein Blatt mit einem Pfeil darauf. Dennis hat erst dumm geguckt, er hat den Pfeil gedreht und als er nach oben gezeigt hat, haben die Erwachsenen genickt. Sie haben uns an die Hände genommen und wir alle sind nach oben in die Richtung gegangen, in die der Pfeil gezeigt hatte. Hinein in das Zimmer von Dennis‘ Schwester, die jetzt studiert und diesmal nicht dabei war. Als wir darin standen und uns nach einem Geschenk umgesehen haben, hat Dennis Mutter gesagt: „Das ist jetzt deins!“ Dennis hat sich fragend umgesehen. „Was?“ Seine Eltern mussten lachen. „Das Zimmer von Eva.“ Dennis sah auf das Regal an der Wand, in die die Sachen aus seinem Koffer einsortiert waren. „Meins?“ – „Ja“, sagte sein Vater. „Das ist jetzt dein Zimmer.“ Mehr als „Oha“ konnte Dennis nicht antworten. Dennis und ich, wir haben uns auf das Bett gelegt und gelacht. „Da war das Zimmer unter dem Baum und ich hab es nicht gesehen“, hat Dennis in mein Ohr geflüstert. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir ab da nochmal Angst vor der Dunkelheit gehabt haben, von ein paar kleinen Träumen abgesehen.