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Das ausgebliebene Kuchenwunder

Die Marmorkuchenanekdote machte mir Lust, mich selbst am Hellsehen zu versuchen. Mittels eines von Weihnachten übrig gebliebenen Stücks Käsekuchen würde ich einen erhellenden Blick auf die nächsten Wochen meines Lebens werfen.

Käsekuchen war aus zwei Gründen genau der richtige Katalysator für meine Prognosen. Zum einen war seine Substanz zusammenhängend und fest. Von einem Stück Marmorkuchen fiel doch schnell mal ein Krümel Zukunft ab. Wenn man Pech hatte, genau das Stückchen Zukunft, für das man sich am meisten interessierte.

Wo kommt der Kuchen her?

Der zweite Grund war profaner: In meinem Haushalt fand sich zur Zeit nur dieser Käsekuchen. Jede andere Sorte hätte erst gebacken werden werden müssen. Ich hoffte, dass sein Alter von drei Tagen keine negativen Auswirkungen auf die Vorhersagen hatte. Alte Zukunftsvorhersagen nützen mir wenig.

Flugs war meine Wohnung aufs Nötigste spirituell eingerichtet. Gedämpftes Licht, aus allen Winkeln flimmerten Kerzen. Den Fernseher auf „Off“ gestellt. Sorgfältig versprühtes Deodorant ersetzte die fehlenden Räucherkerzen.

Ruhe bitte, es geht los

Ich platzierte mich im Schneidersitz zu dem Kuchen und konzentrierte mich. Es dauerte, bis ich meinen inneren „Wie bekloppt bist du denn“ schreienden Zensor vertrieben hatte und wirklich ganz bei der Sache war. Als es so weit war, erschien auf der Schnittfläche des Kuchens eine Zukunft, nein, mehrere, da die Schnittfläche zunächst flimmernd zwischen verschiedenen Zukunftskanälen umschaltete. Schließlich stabilisierte sich eine Zukunft. Ich sah eine belebte Straße, mit wuselnden Fußgängern und Autos, die mir bekannt vorkamen. Es schneite. Schnee war, wie ich wusste, von den zuständigen Wetterankündigern für morgen angekündigt. Noch bevor ich rausgekriegt hatte, um welche Straße es sich handelte, erkannte ich einen der Fußgänger. Es war der alte Huber von über mir, wie er sich mit vollgestopften Plastiktüten abschleppte. Er kam wohl gerade vom Einkauf beim Discounter. Ein fetter, fieser und faltiger Kerl, der findig darin war, ständig was zu fauchen zu haben. Wäre schon blöd, wenn meine Zukunft etwas mit dem Kerl zu tun haben sollte.

Dem Huber riss der überstrapazierte Griff seiner farbenfrohen Einkaufstüte und deren Inhalt sprang blitzartig auf die Straße. Er hechtete im Affekt hinterher und wurde von einem Auto aus voller Fahrt erfasst. Hätte er mal nicht machen sollen, auf die Straße rennen wegen der paar Konserven.

Ein anderes Programm

Aber was hatte das mit mir zu tun? Wo war meine Zukunft? Ich konzentrierte mich wieder ernsthafter, die Zukunftskanäle kamen erneut ins Rollen. Diesmal hielt der Käsekuchen an einer Nachtszene an. Mondlicht fiel auf eine fremde, feminin eingerichtete Wohnung.

Im Schloss der Wohnungstür rührte ein Schlüssel. Die Tür schwang auf. Ein umschlungenes Paar bildete im Gegenlicht der Flurbeleuchtung einen schwarzen Klumpen. Wieder entschlungen fand ihre Hand den Lichtschalter. Es war die Tussi vom Parterre. Wie hieß sie doch gleich? Die Schlampe war meinen Avancen immer ausgewichen. Zicke!

Das Nest der Zicke

„Du wirst mich doch noch auf einen Kaffee einladen?“ säuselte der stämmige Kerl. Er sah gut aus, in seinem feinen Anzug. Die Zicke spielte eine Sekunde lang die Zögernde und zog ihn dann an seinem Schlips in ihre Wohnung. In den nächsten Minuten gab es keinen Kaffee, sie rissen sich knutschend die Kleider vom Leib. War prima anzusehen, aber was hatte das mit mir zu tun? Wo blieb ich?

Mittendrin schrack sie hoch. „Die Kondome!“ Sie wühlte zu seinem Ärger in der Nachttischschublade, wurde fündig. „Das rote oder das blaue?“ forderte sie ihn auf zu entscheiden. Er wählte das rote. Es ging mich zwar nichts an, aber ich sah weiter zu. An der spannendsten Stelle schrie sie auf. Das Kondom war geplatzt. Sie stürzte ins Bad, blieb mit dem Fuß an seiner hingeworfenen Hose hängen und donnerte ihren Kopf mit Schmackes gegen den Türrahmen.

Die Zukunft der anderen nervte mich. Ich zog es vor, den Käsekuchen zu verspeisen.

Reality-Geflüster

Zwei Tage später drang im Treppenhaus der mit omahaften Ausschweifungen geschilderte Unfallhergang des alten Huber an meine Ohren. Die ebenfalls im Parterre wohnende Oma Bennemann unterrichtete die Zicke. Neben all den Details, die die genauen Umstände der Wissensermittlung der Oma betrafen, in der Friseurtermine und Verwandtschaftsbeziehungen fremder Leute eine Rolle spielten, erfuhr ich, dass der blöde Huber tatsächlich dosenrettend vor einen Volkswagen getreten war. Jetzt musste „der Arme“ Sylvester im Krankenhaus verbringen.

Als ich unten ankam, musste ich mich zwischen den beiden Schwätzerinnen durchzwängen. Dabei entging mir nicht, obwohl sie verlegen zur Seite sah, die schwellende Beule über dem linken Auge der Zicke. Ein breites inneres Grinsen begleitete mich auf den nächsten Metern.

Wann die Zukunft?

Mein Weg streifte zufällig einen Konditor mit verlockender Auslage. Sollte ich es ein zweites Mal versuchen? Mit einer andern Sorte Kuchen? Nein, ich liess es bleiben. Die Abwesenheit jeglichen Talents, meine Zukunft zu sehen, konnte als bewiesen angesehen werden. So etwas Dämliches würde ich nie wieder versuchen. Sollten andere Trottel ihren Hirngespinsten nachgehen. Ich konnte mich damit begnügen, die Zukunft zu dem jeweiligen Zeitpunkt zu erleben, an dem sie sowieso stattfand.

Kuchen würde es erst wieder zum nächsten angemessenen Anlass geben. Vielleicht einen explosiven Marmorkuchen.

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