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Zoom-Erlebniswelt Gelsenkirchen: Ein Besuch im Zoo als Reise zum inneren Kind

Arten waren gestern: Nur auf die richtige Lebenseinstellung kommt es an.

Dieser Zoo ist tatsächlich anders als viele andere, die ich kenne. Gerade ganz anders als diejenigen, die vor allem aus Kostengründen oder weil die Vision gefehlt hat, ihr Konzept nicht den Erfordernissen der Zeit anpassen konnten. Das Gebilde, das einst spröde „Ruhr-Zoo“ hieß, hat zwei Alternativen gehabt: Entweder sofort zu schließen oder komplett umzubauen.

Man hat sich für Letzteres entschieden und die Bauarbeiten dauern sozusagen bis zum heutigen Tag an. Mit Fertigstellung der Asienwelt ist neben Afrika und Alaska der dritte Bereich (fast) fertig geworden.

Eine neue Idee: Landschaft anstatt Tieren
Alte Zoo-Konzepte wollten Tiere zeigen, moderne wollen die Landschaften großräumig erstehen lassen, wollen Holzarchitektur zeigen und ein bißchen vom Feeling des Landes nachbilden – eine Aufgabe für einen weit denkenden Garten- und Landschaftsarchitekten. In diesen großräumig geplanten Landschaften, in denen es ohne Ende Möglichkeiten zum Springen, Klettern und sonstwie Rumflippen für Kinder gibt, fühlt sich die Spezies „Familie“ besonders wohl – und lädt zu weiteren Beobachtungen ein.

Sich wie in Afrika fühlen, wenn da nicht das Industriegebäude am Ende des Horizonts wäre.

Anstatt Kaffee-Satz: Read my Lips
Ich blicke von einer Holzbrücke über eine Landschaft, die aus Wasser und vielen kleinen Inseln besteht. Dieser Ausschnitt mit seinen Flamingos in der Mitte des Wassers, einbeinig auf Inseln abhängend, mit den hohen Gräsern im Wasser und den Nashörnern ganz weit hinten wirkt tatsächlich wie irgendwo in Afrika. Ich will den Ausblick genießen, höre aber ein permanentes Schmatzen. Könnte eines der Nilpferde sein, aber nein, neben mir steht eine Frau mittleren Alters. Während sie eine Fotokamera weit von sich hält und deren rückwärtigen LCD-Monitor fixiert, macht sie ein Foto nach dem andere und dreht, wendet oder bearbeitet das Kaugummi in ihrem Mund dabei ohne Unterlass. Sie ist stark geschminkt. Der leuchtend rote Lippenstift, der die Sonnenstrahlen des Tages wie ein Magnet anzieht, hat die ursprünglichen Begrenzungen der kaum vorhandenen Originallippen weit überschritten. So als wollte er sagen: „Mir egal, dass ich keine Lippen habe, ich trete die Flucht nach vorne an und überbetone, was praktisch gar nicht da ist.“ Das erinnert mich an die Verhaltensweisen der Paviane, die in unregelmäßigen zeitlichen Abständen wie kleine rotärschige Borderline-Persönlichkeiten ausflippen und von einem Artgenossen in die Enge getrieben, die Flucht nach Vorne antreten, was in eine Art Massenhysterie mündet, die in einer lauten Kulisse aus Rufen und Schreien endet.

Links die Brutpflege betreibenden Paviane, rechts die Brutpflege betreibenden Menschen.

Die Relativitäts-Theorie der Individualität: Wer ist das Unikat?
Hinter Diane Arbus mit den Lippen, die zwar nicht aufgespritzt aber dafür wallig-hügelmäßig aufgeschmickt sind, steht ein Pärchen. Sie hat in zwei verschiedenen Rots gefärbte Haare und vollständig schwarze Klamotten an, er ist ebenfalls schwarz gekleidet und hat grundsätzlich auch schwarz gefärbtes Haar, nur vorne das erste Drittel der langen nach hinten gekämmten Haare ist ungleichmäßig organgerot eingefärbt. Das sieht interessant und besonders aus. So heben sie sich von anderen Individuen ab, entziehen sich der erdrückenden Gruppendynamik. Während alle anderen Artgenossen an einem ungewöhnlich heißen und staubigen Tag eher rote Gesichter und tendenziell rundliche Figuren haben, sehen die beiden bleich und ausgezerrt aus. Doch fällt das nicht weiter auf. Da Osterferien sind und der zweite Sonnentag in Folge ist, ist der Zoo völlig überlaufen. Schon an den Kassen draußen haben sich gewaltige Schlangen gebildet. Eine gruppenzwingende Dynamik hat alles und jeden in diese Erlebniswelt gesogen. Keiner konnte entkommen, alle sind gleich, der perfekte Sozialismus: Weil alle das gleiche wollen, verkommen tatsächliche Unterschiede zwischen den Menschen zu Marginalien. Alle essen das Gleiche, alle bewegen sich gleich eingestaubt in riesigen aber dennoch sonnendurchdrungenen Staubwolken, alle sagen das gleiche und sehen das Gleiche. Die einzigen, die völlig individuell sind, sind die Insassen dieser Institution: Die Tiere.

Rauhe Schale, glatter Kern: Das Nashorn als Symbolbild für eine reibungslos funktionierende soziale Gemeinschaft jenseits kapitalistischer Determinanten.

Patriarchale Strukturen als stromlinienförmig-erfolgreiche Lebensform
Als nächstes kommt mir eine Groß-Familie entgegen, die aus vielen kleinen wuselnden Kindern, mehreren Frauen, ein paar Jugendlichen und einem dominanten Männchen besteht, das einen teuren schwarzen Mantel trägt, dazu eine absolutistisch jeder Falte entledigte Hose und eine leuchtend rote Krawatte zu weißem Hemd. Dieses Männchen gibt auch in diesem privaten Rahmen den Geschäftsmann. Kein anderes Familienmitglied kommt ihm näher als einen Meter, selbst die Kinder nicht. In dieser Gruppe äußert sich die streng-patriarchalische Hierarchie in der Raumausnutzung bzw. Raumbesetzung durch die  einzelnen Individuen, die viel über ihren jeweiligen Rang aussagt. Die rote Krawatte haut einfach ‚rein. Auch bei dem Wetter einen schweren schwarzen Mantel zu tragen, wäre normalerweise eine visuelle Dreistigkeit. Hier tut sie nur kund, dass jemand gestorben ist: Ein Privatmann existiert nicht mehr, nur noch der Geschäftsmann, der allen um sich herum zu kommunizieren scheint: „Ich bringe das Geld nach Hause, und das nicht zu knapp, ich ernähre euch. Also ordnet euch unter.“ Als sein Anblick vor meinem Auge verschwimmt und er ausladend voranschreitet, focussiere ich auf den Hintergrund. Dort sehe ich zwei Nashörner, die unter ihrem dicken Panzer unnahnbar scheinen. Allerdings stehen sie eng zusammen – sozialistisch-solidarisch als graduierte Vorbild-Gemeinschaft.

Die Pavian-Kolonie (links) wird vor der aggressiv-marodierenden Menschen-Population (rechts im Piratenschiff) durch einen Zaun geschützt.

Wie Zoobesuche und die Weltwirtschaftskrise aufs Engste zusammenhängen
Ich imaginiere in assoziativer Nähe zum klassischen Sonnenstich, dass der Patriarch von gerade eben in ein paar Monaten bei seiner Familie auf seinen Brustwarzen – die inzwischen kleine Beinchen mit Füßen, die Nike-Turnschuhe tragen, ausgebildet haben – zur Haustür hereinkriechend Abbitte leisten wird, weil er im Zuge der Weltwirtschaftskrise kein Geld mehr verdient, ja sogar ein Insolvenzverfahren durchschreiten muß und der familiären Gemeinschaft nur noch auf der Tasche liegt. Im Gegensatz dazu hat es jeder noch so kleine Pisser von einem Zootier wesentlich weiter gebracht: Jedes Tier hier hat sozusagen einen krisenfesten Arbeitsplatz, kann machen, was es will, und bekommt trotzdem immer zu essen, hat immer ärztliche Versorgung, immer einen Platz zum Schlafen, genügend Sex und kann den ganzen Tag über langnasige Dummbeutel beobachten, die all das finanzieren.

Langhaarig mal richtig abhängen können: Nur Orang-Utans können die Seele richtig baumeln lassen.

Ziemlich affig: Schweigen ist Gold
Ich gehe weiter. Jetzt sind wir im Affenhaus, jenem Ort, an dem die Eigenschaften von Mensch und Affe traditionell sehr leicht verschwimmen können. Da sind die coolen, gleichmütigen Affen, die einem das Gefühl geben, man selbst würde unter Beobachtung stehen, die langhaarigen Hippie-Orang-Utans, die distinguierten Schimpansen oder die übermotorischen anderen Arten, deren lange Schwänze Vorbild für den des Marsupilami gewesen sein könnten. Hinter den Scheiben also behaarte Wesen, die eigentlich nur Sinnvolles tun: Essen, Brut-Pflege und -Vorbildarbeit, Gruppendynamik, hier und da etwas Geschlechtsverkehr, Schulung der genialen motorischen Fähigkeiten, vor allem aber: Sprachlosigkeit – und der Erkenntnis Referenz erweisend, dass man einfach schweigen sollte, falls es mal nichts zu sagen gibt.

Zutiefst menschenwürdig: Reden ist Gold
Ganz anders die Spezies „Mensch“. Auf  dieser Seite der Scheibe sieht man nur Wesen ohne Augen, anstattt dessen überall Kameralinsen. Sie sondern in einer permanent wabernden Tagcloud unnütze Begrifflichkeiten und Wortfetzkaskaden ab wie: „Sieh’/Schau’/Guck‘ mal!“, „Das gibt’s doch nicht!“, „Wie macht der das?“, „Wie süß!“ oder aber „Boh!“, „Oh!“, „Äh!“. Die Gleichmut der Affen wirkt angesichts dieser restringierten vor-evolutionär kommunikativen Formen, die sich amplitudisch innerhalb von Blitzlichtgewittern vollziehen und das Leben nur noch über Bilder und Filmclips wahrnehmen und entschlüsseln können, um so beeindruckender.

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