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NRW-Wahlkampf (6): Die FDP und die Untiefen der Politikverdrossenheit

FDP-Spitzenkandidat für den nordrhein-westfälischen Landtag: Andreas Pinkwart auf dem ersten Plakat in legerer Kleidung. Botschaft an die Massen: „Ich bin einer von euch.“

FDP-Spitzenkandidat für den nordrhein-westfälischen Landtag: Andreas Pinkwart auf dem ersten Plakat in legerer Kleidung. Botschaft an die Massen: „Ich bin einer von euch.“

Was vermittelt die FDP in einer Wahlkampf-Rede? Wir hatten Prof. Dr. Andreas Pinkwart am 3. Mai 2010in der Ruhrgebiets-Kreisstadt Recklinghausen bei einer Veranstaltung beobachtet. Pinkwart ist seit 2005 Minister für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie sowie stellvertretender Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen für die FDP. Die befindet sich auf landes- und auf bundesebene in einer Koalition mit der CDU/CSU und hat dabei keine glückliche Hand.

Politischer Partnertausch
Was ist das Schlimme an Koalitionen? Dass jede Seite versucht, Erfolge für sich zu reklamieren und Misserfolge dem politischen Partner anzulasten. Eine kleine Partei wie die FDP ist traditionell Koalitionspartner für eine der beiden großen Parteien gewesen. Im Drei-Parteien-System aus CDU/SPD/FDP hatte die FDP dadurch eine Alleinstellung als begehrter Partner. Inzwischen gibt es „Bündnis 90/Die Grünen“ als feste Größe und „Die Linke“ könnte auch dahinkommen. Auf bundespolitischer Ebene vermittelt die augenblickliche Koalition allerdings kein Erfolgsmodell. Dies strahlt auch stark auf die NRW-Wahlen ab.

Und so war Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart auf dem folgenden Wahlplakat zu sehen: Nicht mehr "einer von uns"?

Was Politiker und Gastwirte gemeinsam haben
Politiker leben mitnichten mit einer grauen riesigen Wählerschaft, vielmehr sehen sie mit geschärften Sinnen ganz genau hin und betrachten ihre isolierten Zielgruppen, von denen jede überzeugt werden will. Ein Politiker gleicht in dieser Eigenschaft einem fitten Gastwirt: Der begrüßt jeden Neuankömmling mit einem hohen Maß an Aufmerksamkeit. Der Gastwirt ist deshalb kein wirklich guter Zuhörer, dafür kommuniziert er permanent mit vielen Menschen gleichzeitig. Wer betritt die Kneipe, wer verlässt sie zu schnell? Wer wurde nicht gut bedient? All das muß er registrieren, deshalb kann er nicht tiefgründig kommunizieren. Er ist aber der Meister des Small-Talks, den man natürlich sehr gut mit mehreren Personen gleichzeitig führen kann. Der Gastwirt hat Angst davor, dass sich jemand auf den Schlips getreten fühlt. Ganz ähnlich verhält sich ein Politiker. Der versucht in seine Reden all das hineinzupacken, was seine Wähler begeistern könnte. Es geht irgendwann in seinem Politikerleben nicht mehr darum, nur das zu sagen, was er, der Politiker, wirklich vertreten kann, sondern die Aussagen so allgemein zu formulieren, dass sich möglichst viele potenzielle Wähler davon angesprochen fühlen. Denn den Wahlerfolg eines Politikers bedingt heute nicht eine gesichtslose Schafsherde von Wählern sondern eine schillernde Schar mit sehr unterschiedlichen, individuellen Wünschen und Bedürfnissen, die alle befriedigt sein wollen.

Fotogen: Die kleineren Plakate sind besser fotografiert als die größeren. Sofern man Andreas Pinkwart nicht mit Günther Oettinger verwechselt, möchte man ihn direkt in den Arm nehmen, so lebensnah wirkt er hier.

Der Politiker als Marketing-Manager
Und wenn es mal wieder so sein sollte, dass zu wenig Mitglieder einer Zielgruppe erschlossen werden konnten, obwohl man schon die politischen Aussagen so weit gedehnt hatte, wie nur möglich, dann muss man die eigenen politischen Inhalte so lange erweitern, bis neue Zielgruppen strömen. Wie das geht, hatte Jürgen Möllemann am rechten bis rechtsextremen Rand mit einer Wahlkampagne für die FDP vorgemacht. Er hatte sich dadurch selbst diskreditiert, politisch verunmöglicht und 2003 Selbstmord begangen. Das politische Leben ist weitergegangen. Ein kritisches Hinterfragen der ewig gleichen Plattitüden findet auch bei der FDP nicht statt, führt zur Inflation der Halb- und Unwahrheiten und fördert nach Kräften die Politikverdrossenheit, denn soviel Verbal-Quatsch auf einmal zu hören, ist so ähnlich, wie zuviel Süssigkeiten zu essen: Hinterher hat man immer Bauchschmerzen.

Pinkwart ist ein universitär geschulter Redner, der ohne großartige rhetorische Spannungsbögen auskommt.

Wie sieht sich die FDP selbst?
Die FDP sagt sehr vieles von sich selbst: Die FDP will sozial sein. Die FDP will „Hartz IV“ in der gegenwärtigen Form abschaffen. Die FDP ist eine Wirtschaftspartei, die den Mittelstand fördern will. Die FDP ist für Bildung. Die FDP ist für persönliche Freiheiten und weniger Staat. Die FDP glaubt wie die CDU an die Unterschiedlichkeit der Menschen, will aber trotzdem Chancengleichheit. Die FDP ist eine Bildungspartei. Die FDP will also ziemlich viel sein, dabei wird sie jenseits ihrer angestammten Klientel von der Öffentlichkeit eher als reine Wirtschaftspartei wahrgenommen. Ihr ehemaliges Profil einer tatsächlich liberalen Partei, die die Bürgerfreiheiten schützen und sogar ausbauen will, hat sie unterwegs auf ihrem politischen Weg verloren. Die FDP serviert auf ihrer Wahlveranstaltung einen Mix wie ihn eigentlich mehr oder weniger jede Partei serviert: Bildung und Qualifizierung auf dem Weg zu mehr Arbeit, soziale Politik, liberale Politik, die keinen Überwachungsstaat will. Und natürlich das Thema „Wirtschaft“: Auch hier weniger Staat, weniger Steuern und mehr Eigeninitiative insbesondere des Mittelstandes.

Andreas Pinkwart hat keine Probleme, sein politisches Konzept darzulegen. Wie bei fast allen Wahlreden politischer Parteien mit Regierungsverantwortung kratzt er aber nur an der Oberfläche der Probleme.

Verhandlungssache „Wahrheit“
FDP-Landtagskandidat Christoph Drozda wird in Recklinghausen gefragt, wie er den augenblicklichen Wahlkampf empfinde. Er freut sich über viel Positives, sieht viel Zuspruch und im Wahlkampf keine Probleme. Ein anderer Redner dankt den Zuhörern eingangs für ihr zahlreiches Erscheinen, obwohl man beileibe nicht davon sprechen kann, dass überviele den Weg in die Gaststätte, in der die Veranstaltung bürgernah stattfindet, gefunden hätten. So ist das in der Politik: Die Tatsachen werden gedreht, gewendet, gemixt, geschönt, verdreht. Die Suche nach der Wahrheit bleibt Verhandlungssache.

In der Wahlkampf-Akademie
Dr. Andreas Pinkwart, der eine Professor an der Universität Siegen (Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre) inne hatte, war das Zugpferd der Veranstaltung. Während sich zwischen polarisierenden Rednern und ihrem Publikum ein enges emotionales Verhältnis aufbaut, erwarten akademische Redner gar keine Reaktion von ihrem Publikum. Pinkwart ist so einer. Er redet ohne beträchtliche rhetorische Höhepunkte sauber durch, wirkt dabei akademisiert zuversichtlich und strahlt wie auch Angela Merkel und die Recklinghäuser CDU, die vorher in Recklinghausen eine Wahlkampf-Veranstaltung abgehalten hatten,  Selbstzufriedenheit aus. Wo nimmt er die her? Er zählt die Erungenschaften der NRW-Politik auf, die Haushaltskonsolidierung, die Krippenplätze, die angeblich eingesparten Beamtenplätze. Während dieses Teils der Rede könnte man meinen, all das hätte die FDP alleine zuwege gebracht. Tatsächlich reklamiert die NRW-CDU die gleichen vermeintlichen Errungenschaften für sich. Muss man nun beide wählen?

Bei Wahlveranstaltungen fühlt sich mancher, der gekommen ist, um sich zu informieren, zwischen Bodyguards, Parteifunktionären und Presseleuten, etwas fehl am Platze.

Die Wahl-Werbung
Pinkwart kam auf der ersten Version des Großflächen-Wahlplakates als Politiker von nebenan daher, mit aufgeknöpftem Hemd und Pulover darüber, die letzte Version zeigt ihn ganz ministerial in Anzug und Krawatte. Wer ist er also? Befragt würde er vermutlich sagen „beides“. Tatsächlich müht er sich seit langem die FDP in NRW weiter und sich in der Bundespolitik ins Spiel zu bringen, zum Beispiel als möglicher Nachfolger von Guido Westerwelle. Seine FDP ist in Nordrhein-Westfalen jedoch von der politischen Großwetterlage und auch davon, in Regierungsverantwortung an ihren Aussagen und Entscheidungen vom Wähler gemessen zu werden, abhängig. Westerwelle hat die FDP entgegen Pinkwarts Darstellung einer sozialen Partei, als unsozial positioniert, gerade wenn es um die Ärmsten geht, denen auch nicht mehr der Ruf nach mehr Bildung und Qualifizierung helfen kann. Das hinterläßt im Ruhrgebiet mit zahlreichen Städten, in denen überproportional viele Menschen wohnen, die „Hartz IV“ und andere  Transferleistungen erhalten, eindringliche Spuren bezüglich der Themen-Prioritäten wichtiger Wählergruppen.

Wie sehen die Konturen der FDP-Politik im Kreis Recklinghausen aus? Vorredner Jan-Henrik Heinz, der stellvertretende Vorsitzende des Stadtverbandes der FDP, leitete die Veranstaltung ein.

Wie verschieden sind die politischen Parteien?
Pinkwart  thematisiert die gleichen Inhalte wie die CDU, deutet hier und da an, welche Ziele die Partei habe, verpackt diese zögerlichen Beschreibungen jedoch in klaren, manchmal appelativen Aussagen, sodass es sich wie eine Lösung anhört und gar nicht auffällt, dass alle alten und großen Parteien im Grunde den Wählern immer wieder den gleichen Wein in scheinbar neuen Schäuchen kredenzen. Tatsächliche Lösungen, die konkrete Beschreibung des politischen Handelns und des Handwerks auf dem Weg zu einer tatsächlichen Lösung beispielsweise für das Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit oder das Problem der vielen klammen Städte sucht man auch auf dieser Wahlveranstaltung vergebens. Fast könnte man meinen, Prof. Dr. Andreas Pinkwart wäre dankbar dafür, ein Thema wie die unterschiedlichen systemischen Vorstellungen im Bereich Schule zwischen SPD und FDP/CDU im Hinblick auf Ein- oder Mehrstufigkeit vorweisen zu können; denn hier gibt es endlich mal klar abgegrenzt klar vermittelbar unterschiedliche Vorstellungen. Doch insgesamt müßte ein unentschlossener Wähler den Eindruck gewinnen, dass CDU/CSU, SPD, FDP und zunehmend auch „Bündnis 90/Die Grünen“ zu Wahlzeiten die immer gleichen Themen als lösbar darstellen, um sie in der darauf folgenden Legistaturperiode dann doch nicht hinreichend zu bearbeiten. Die Parteien hangeln sich von Wahlversprechen zu Wahlversprechen, doktorn oft an Auswüchsen und Folgeerscheinungen herum, anstatt große Reformvorhaben, anzugehen. Eine solche Wahlveranstaltung wie die in Recklinghausen  dient nicht der Auseinandersetzung um Inhalte sondern eher der Selbstbestätigung und Selbstvergewisserung. Das Wir-Gefühl zwischen Parteiführung und Anhängerschaft wird gestärkt, der Grad der Neuwählerüberzeugung scheint eher gering.

Früher gab es ein Guido-Mobil, mit dem Guido Westerwelle unterwegs war. Das Wahlkampfauto von Andreas Pinkwart verfolgt ein ähnliches Ziel aber mit zurückhaltenderen Mittel. Foto: Claus Szczendzina.

Reformstau bei der Parteien
Die Parteien machen weiter wie bisher. Keiner trägt dem Umstand grundlegend Rechnung, dass sich die Zeiten geändert haben. Das althergebrachte Nachkriegs-Parteiensystem ist eingerostet und überlebt sich zunehmend. Wenn die alten Parteien sich nicht in Frage stellen und in einem fortwährenden Prozess reformieren, werden sie an Bedeutung verlieren. Die sozialdemokratische SPD entdeckt ihre Sozialpolitik neu, aber den klassischen Arbeiter gibt es immer weniger. Eine wichtige Klientel der Parteien sind inzwischen höher qualifizierte Arbeitnehmer. Die FDP stand früher für den Gedanken der bürgerlichen Freiheiten in einem Staat, der durch Macher-Engagement geprägt sein sollte. Längst sind Themen wie „Überwachungsstaat“ und „Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten“ ein wichtiges Thema vor allem für die moderne, internetaffine Gesellschaft geworden, was zum Beispiel die „Piratenpartei“ befeuert hat. Die FDP hat hier den Anschluß verloren. Die christlich-soziale CDU/CSU agiert in einem Staat, in dem die Orientierung an christlichen Werten nachgelassen hat und die bürgerliche Mitte Gefahr läuft, zu errodieren. Woher sollen da zukünftig ihre Wähler kommen?

Auch das ist Wahlkampf: FDP-Europa-Abgeordnete Sylvana Koch-Mehrin, die im letzten Europa-Wahlkampf wegen zu geringer Anwesenheit im Parlament von sich reden gemacht hatte, als "harte" Rock'n'Rollerin im aktuellen "Rolling Stone".

Kurskorrektur: Die Symbiose zwischen großen und kleinen Parteien
Wie anpassungsfähig sind die alten monolithischen Parteien? Längst sind die großen Parteien nicht mehr unangefochten dominierend. Kleinere Parteien wie „Büdnis90/Die Grünen“, die FDP und nun potenziell „Die Linke“ sind entweder das Zünglein an der Waage oder gehen eine symbiotische Beziehung mit dem Wirt Volkspartei ein. CDU/CSU und FDP sind vereinigt im Bestreben, die Zielgruppe „bürgerliche Mitte“ zu vertreten. Die bürgerliche Mitte jedoch scheint ebenfalls ein Auslaufmodell zu sein. So wie die Mittelschicht (und auch der wirtschaftliche Mittelstand) Gefahr laufen, zerrieben zu werden zwischen einer Oberschicht, die selbst in Krisenzeiten immer feister wird und einer Unterschicht, die sich analog zur weltweiten Ausbreitung der Wüsten verhält. Die werden nämlich auch täglich größer.

Andere Zeiten: Die Gesellschaft der Individualisten
Die polarisierende Zersplitterung der Gesellschaft vollzieht sich außerdem auf der Ebene extremer Individualisierung. Aus einer konformistischen Massengesellschaft ist eine geworden, in der auf der anderen Seite egozentrische, egoistische und höchst individualisierte Interessen zu einer Atomisierung der Wunschkultur geführt haben. Das ist auch der Ansatzpunkt für eine Vielzahl kleinerer Parteien, die aus der offenkundigen Bedürfnislage „für jeden Anspruch eine Partei“ heraus entstanden sind. Dass das funktionieren kann, sieht man daran, dass das ehemalige 3-Parteiensystem an der Schwelle zum 5-Parteien-System steht und darüber hinaus exotische Parteien ebenfalls Achtungserfolge erzielen. Jedoch immer, wenn eine kleine Partei erfolgreich wird, versuchen die Großen, deren Inhalte zu adaptieren. So hat das Erstarken der Grünen zu einer Grünfärbung der gesamten Parteienlandschaft geführt.

CDU hat bei der Landtagswahl ca. 10% der Stimmen eingebüsst
Die aktuellen Zahlen von heute Abend legen einen Politikwechsel nahe. Rot/Grün ist stärker als Schwarz/Gelb. Wenn sich diese Zahlen bestätigen, könnte die schwarz/gelbe Mehrheit im Bundesrat kippen, was das Mächteverhältnis in Berlin und damit die Bundespolitik ändern würde.

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