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Kunsttagebuch: Wahrnehmung und Identität

TransparenzDas Sein bestimmt das Bewusstsein – und damit die Wahrnehmung. Denn unser Sensorium, das Informationen aufnimmt, wird von einem konditionierten Gehirn gesteuert. Das nämlich interpretiert die Wahrnehmungen, gewichtet sie und weist ihnen eine individuell unterschiedliche Relevanz zu – ein unter Umständen stark verfälschender Filtermechanismus.

Ein Mensch, der zum Beispiel mit 10 Jahren anfängt, in einer Fabrik zu arbeiten und dort 30 Jahre lang täglich 12 Stunden verbringt, wird die Welt und die Unausweichlichkeit ihrer Mechanismen anders wahrnehmen als ein Mensch, der einmal täglich die Wertpapierentwicklung checkt, um den aktuellen Stand seines Wertpapierdepots zu ermitteln, damit er seine Freiheiten weiter genießen kann.

Vogelperspektive oder Froschperspektive?

Ein Vogel, der die Welt von oben sieht, wird sie anders einordnen als ein Mensch. Interessant ist, dass manch ein Raumfahrer, der die Erdkugel in Gänze sehen konnte, hinterher zum Religiösen oder Esoterischen geneigt hat. Seine Wahrnehmung hat neue Erfahrungen gemacht und sein Bewusstsein hat sich verändert. Unterschiedliche Perspektiven, Blickwinkel oder ein bestimmter Sitz im Leben führen zu einseitigen Sichtachsen auf die Wirklichkeit. Man könnte folgern: Nur im Austausch von Informationen, nur in der gemeinsamen Betrachtung erschließt sich der Betrachtungsgegenstand in seiner Mehrfach-Dimensionalität – ansonsten bleibt er begrenzt, eindimensional und dadurch relativ verfälscht.

„Blinder Fleck“ als nach innen verspiegelte Sonnenbrille

Ist man Teil eines Systems, kann man das System aber sowieso nicht, nicht komplett oder nicht exakt erfassen. Darauf basiert sowohl der Umstand, dass die Selbstwahrnehmung des Menschen unvollkommen oder falsch ist – beschrieben durch den Begriff Blinder Fleck – als auch, dass ein System, dessen Teil man ist, zum Beispiel als Mitglied einer politischen Partei, wahrnehmungsverzerrend wirkt: Das Parteimitglied kann seine Partei nicht mehr hinreichend wirklichkeitsgemäß wahrnehmen. Der Buchautor kann nicht mehr wahrnehmen, ob sein Buch gelungen oder misslungen ist. Die Immanenz ist, um sich regulieren zu können, auf die Außenwahrnehmung und ihre Vernetzung mit der Außenwelt angewiesen. Der Perspektivwechsel ist entscheidend. Die Alternative wäre Stagnation.

Individuelle und übergeordnete Wahrnehmung

Bezieht man diesen Umstand auf das große Ganze, auf die Wahrnehmung der Welt und ihre Entstehung, auf das Universum und (postulierte) Ereignisse wie den Urknall, so bleibt ein Problem, dass auch der wahrnehmende bzw. wissenschaftlich nach Erkenntnis strebende Mensch Teil des Gesamtsystems ist, das untersucht werden soll. Andererseits versucht die Wissenschaft diesen systemischen Mangel durch ein Regelwerk für die Nachvollziehbarkeit von Ergebnissen und damit durch die Vereinigung unterschiedlichster Wahrnehmungen zu einer Gesamtwahrnehmung zu nivellieren.

Wahrnehmung und der vorläufige Charakter der Weltsicht

Die Geschichte der Wissenschaft und ihre Ergebnisse, Theorien und ermittelten Gesetzmäßigkeiten, scheint bezüglich der Wahrnehmung der Welt ein Annäherungsprozess, eine jeweilige Gesamtvereinbarung in Theorie und Praxis zu sein. Sie hat stets vorläufigen Charakter und doch ist jede Teilwahrnehmung, so falsch sie zum Teil auch sein mag, eine Stufe in einem evolutionären Erkenntnisprozess. Dabei dienen historisch betrachtet falsche Wahrnehmungen, von denen man sich abgrenzen kann, ebenso dem Erkenntnisprozess.

Wahrnehmung, Bewusstsein und Aufeinanderbezogenheit

Das Bewusstsein und die Wahrnehmung sind dialektisch miteinander verbunden und beeinflussen sich wechselseitig. Dies kann sowohl zu Stagnation führen als auch die Möglichkeit eines Bewusstseinswandels enthalten. Das Ich kann sich über Verstärkung und permanente Bestätigung der eigenen Wahrnehmung bleibend definieren oder über Änderungen der Wahrnehmung verändern und erweitern. Die durch psychedelische Drogen indizierten Bewusstseinsveränderungen beispielsweise, die oft als Bewusstseinserweiterung bezeichnet werden, können zu einer veränderten Selbstwahrnehmung führen.

Wahrnehmung zur Ich-Definition und Identität

Wahrnehmung und Bewusstsein formen die Identität. Die Identität ist im Kern eine virtuelle Größe an den Schnittstellen zur Wirklichkeit. Sie ist aber auch auf Flexibilität angewiesen, um auf neue Aufgabenstellungen ungewohnt anders reagieren zu können. Das kreative oder künstlerische Ich hat ein flexibleres Grundkonzept, das sich selbst bewahrende und erhaltende Ich ein statisches. Wahrnehmung dient nicht nur der Informationsaufnahme, sondern im Speziellen der Selbstvergewisserung oder Selbstinfragestellung im Vergleich zu den Ereignissen der Außenwelt.

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