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Kunsttagebuch: Extrem und Durchschnitt – ein Psychogramm und Elektro-Enzephalogramm

Extremmuster

Kunst gilt als Lebensbereich der Besessenheit. Dabei spielt eine Rolle, dass Kunst das Unbewusste zu Tage fördert und die schwer zu bändigenden Empfindungsbereiche Intuition und Gefühl im Kunstprozess wichtiger sind als Bewusstsein und logischer Verstand, die rationale Instrumente der Verarbeitung von Wahrnehmungen sind. Aber Bewusstsein und Besessenheit vertragen sich auf die Dauer nicht gut. Die Ägide des torkelnden Extrems sind Bewusstlosigkeit auf der einen und das Schwelgen in einem Gefühl für die notwendigen Dinge auf der anderen Seite – eine Zerreißprobe.

Der Künstler kann also dann ein Besessener bleiben, sofern er nicht beginnt, zu bewusst zu agieren. Ein Besessener ist ein Gefühlsextremist, ein Extrembergsteiger der inneren Steilwände. Obsessionen sind extrem, und extrem ist eine Steigerung, die weit entfernt ist vom Durchschnitt oder „Mainstream“, wie man heutzutage abwertend sagt (und was man früher auch „middle-of-the-road“ genannt hat).

Der Wert des Extremen

Oft bestimmt das Extreme den Wert einer Handlung oder formt ihn mehr als das Durchschnittliche. Das Normale und Durchschnittliche sorgt für Kontinuität und Beständigkeit. Denn das Durchschnittliche ist mit weniger Aufwand erreichbar, eben ohne Bessenheit, es gnügt ein minimaler Anspruch. Während das Extreme nicht einfach zu erreichen ist, weil es nicht nach einem Minimalanspruch sondern nach einem hohen Anspruch verlangt. Das Extreme ist selten und deshalb elitär. Das Extreme braucht viel Energie, die aber wiederum neue Kräfte freisetzt. Ein Extremist ist eine zeitlang wie ein Selbstläufer, er schafft sich seine Ziele, und deren Erreichung befeuert ihn in seinem Streben aufs Neue und immer weiter.

Wechsel von Kraft und Ausgebranntsein

Was so schön und leidenschaftlich klingt, hat einen Nachteil: Wer ungewöhnlich viel Kraft aufwendet, um ein ganz besonderes Ergebnis zu erzielen, fällt danach in seiner Leistung ebenso schnell wieder ab, weil das extreme Level nicht lange aufrechtzuerhalten ist. So schaffen Extremisten in einer vergleichsweise kurzen Spanne meist ihr bedeutendstes Werk und danach kommt nicht mehr viel, vielleicht eine Wiederholung und die Paraphrase des eigenen Schaffens, was aber nicht mehr extrem sondern ermüdend durchschnittlich wäre.

Kontinuität des Durchschnitts

Anders der Durchschnittliche: Sein Kraftaufwand ist geringer und steht deshalb kontinuierlicher und nachhaltig länger zur Verfügung. Dafür ist das Ergebnis des Durchschnittlichen, Nicht-Besessenen, weniger leidenschaftlich, weniger besonders und mehr austauschbar. Denn je höher der Grad der Bessessenheit, desto geringer die Austauschbarkeit und desto ausgeprägter die Chance auf eine Originalität der Formensprache.

Momentaufnahme und Dauerhaftigkeit

Der Extremist ist ein stärker Strahlender und ein schneller Vergehender. Der Durchschnittliche leuchtet nicht sehr hell, dafür aber länger und verlässlicher. Der Extreme altert schneller, seine Besonderheit ist das Einswerden mit dem Jetzt als Momentaufnahme. Der Durchschnittliche breitet sich mit seinem künstlerischen Wirken in seinem Leben aus. Vielleicht lebt er länger oder ist länger gesund, weil er mit seinen Kräften haushaltet und nicht über die Stränge schlägt. Denn der Extreme lebt exessiver, ohne Rücksicht auf Verluste und vielleicht ohne Rücksicht auf seine mentale oder körperliche Gesundheit. Er vergeudet sein Leben.

Reiz und Reibung

Der Extreme ist unvernünftiger, weniger beherrscht, im Endeffekt weniger rational, oft ein intuitiver Bauchmensch. Der Normale und Durchschnittliche ist austarierter, er zelebriert eine Ökonomie der eigenen Kräfte. Er weiß mit sich umzugehen, vielleicht deshalb, weil er sich selbst besser kennt und deshalb weniger exrem gegen sich selbst ankämpfen muss. Der Durchschnittliche ist ausgeglichen und stellt damit einen kontinuierlichen Energiefluss sicher, der Extreme ist ein wandelnder Widerspruch, der in dieser Reiz- und Reibungszone punktuell große Energien freisetzt.

Energieniveau

Sieht man Künstler*innen letztlich als Menschen, die auf ein bestimmtes Energieniveau zurückgreifen und ihre Energie in ihrer Kunst sublimieren, könnte man den Extremen als energetischen Vergeuder ansehen, der aber dadurch punktuell oder in einer kurzen Phase Besonderes schafft, und den Durchschnittlichen als jenen, der beständig ein dosiertes Maß an kreativ-musischer Energie freisetzt. Der Durchschnittliche hat in seiner Besonnenheit die Möglichkeit, seine Kräfte zu fokussieren. Der Extreme verbrennt im Fokussierungspunkt seiner Obsessionen.

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