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Kunsttagebuch: Kunst als Welterfassung zwischen Ratio und Emotion

Der Mensch hat zwei Möglichkeiten, die Welt – die er wahrnimmt oder die Welt, über die er mutmaßt – zu erfassen, indem er seine Eindrücke verarbeitet: über den Verstand und die Emotion. Teil des Verstandes ist das Bewusstsein als Spezial-Modus einer weitergehenden Kognition.

Die Emotion wirkt ursprünglicher, basaler, unbewusster und damit zunächst dem Bewusstsein entzogen. Zum Leben in der Welt und zur Wahrnehmung und Empfindung der Welt gehört aber auch die emotional-rationale Kopplung.

Komplexität und Nicht-Sichtbarkeit

Da die Welt nie vollständig oder auch grundlegend erfassbar ist, stößt deren rationale und emotionale Erfassung an ihre Grenzen. Der Mensch bedient sich deshalb weiterer Herangehensweisen, die Welt zu erfassen, zu verstehen und zu entschlüsseln. Dazu muss er zwei Probleme lösen:

  1. Das Problem der Komplexität. Hierbei muss er komplex ineinandergreifende Systeme verstehen, die er als einzelner Mensch nicht verstehen kann. Auch die Abstimmung mit anderen Menschen etwa innerhalb eines Kulturraumes oder innerhalb der Wissenschaft ist als Konzept des Weltverständnisses keine vollständige Lösung. Denn noch etwas Anderes kommt zum Tragen.
  2. Das Problem der Unsichtbarkeit. Hiermit ist all das gemeint, das nur sehr schwer oder gar nicht ermittelt oder erfasst werden kann. Etwa das Allerkleinste im subatomaren Raum oder das Allergrößte in planetaren Raum. Der Mensch bedient sich dabei der Simulation, er erstellt Theorien oder konstruiert ganz allgemein abstrakte Denkgebäude und lässt die Mathematik eine Wirklichkeit berechnen, die sensorisch nicht zu ermitteln ist.

Der unüberschaubare Erkenntnisprozess

Erkenntnis ist ein Prozess, keine singuläre Lösung. Erkenntnis als Welterfassungs-System ist dabei in ihrem interdisziplinären Ineinandergreifen ebenfalls komplex und wirft ihrerseits Handhabungs- und Verständnisprobleme auf, um dieses System der Erkenntnis schrittweise immer wieder überblicken und auswerten zu können.

Gewissheit und Wahrheitssuche

All das mündet zu jedem beliebigen Zeitpunkt in die Aussage: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ (nach Cicero, der sich auf den griechischen Philosophen Sokrates bezieht). Dabei ist die Bedeutung von „nichts“ im Alltag, dass man zwar einiges oder viel weiß aber niemals so viel, dass man Gewissheit haben könnte. Gewissheit ist nur ein Konstrukt, das die Weiterarbeit ermöglicht. Aus dieser permanenten Ungewissheit folgt zum einen der Glaube, dessen Kern und Ursprung die Ungewissheit geradezu ist. Der Glaube ist ein eigenes System, das sogar im Gegenteil, nur funktioniert, wenn man sich einer gegebenen Unbestimmtheit bewusst ist. Deshalb liegt es nahe, die innere Konstruktion des Menschseins entlang einer Achse zwischen Wissen und Glauben anzunehmen. Wissen ist dabei konkret und rational, Glauben im Verhältnis dazu unkonkret, ungefähr und atmosphärisch-emotional.

Wissen und die Atmosphäre des Empfindens

Diese Polarität ist das, aus dem sich die Kunst speist: einerseits etwas zu wissen und von etwas ausgehen zu können und sich dann in einem unbewussten, leidenschaftlichen Prozess des Schaffens auf die Reise zu einer empfundenen Gewissheit zu machen, die eine fühlbare Atmosphäre erzeugt, die vom Künstler über sein Werk kulturell vermittelt wird.

Henry Moore und das Strukturempfinden

Die Skulpturen von Henry Moore könnte man als Antwort auf die Frage verstehen „Wenn ich die Welt auf ihre wesentlichen Grundformen reduzieren und diese geometrisch-schwingend ausdrücken würde, wie würde das aussehen?“ Dabei konnte Moore von seinem Wissen über die real beobachteten Formen in der Welt ausgehen und in seinem dreidimensional-gegenständlichen Werk visuell-körperliche Mutmaßungen darüber anstellen, wie diese von ihm wahrgenommene Welt wohl anders ausgedrückt aussehen könnte.

Egon Schiele und die Atmosphäre des Körperlichen

Egon Schiele könnte sich unbewusst die Frage gestellt haben: „Wie würde der Mensch in seiner nackten Jämmerlichkeit, in seiner Fragwürdigkeit und opportunistischen Sucht nach Körperlichkeit wohl aussehen?“ Die Antwort auf diese fiktive Frage scheinen viele seiner Zeichnungen zu geben. Abgemagerte, manchmal süchtig wirkende Menschen, die eine fahle Körperfärbung haben, mit einer Konturlinie versehen, an der sich eine spektrale Farbigkeit abspielt. Verdrehte, unnatürliche Körperhaltungen sind dabei die Sinnbilder eines Bewusstseinszustandes.

Form, Formen-Sprache und -Grammatik

Die Formen und Formensprache beider Künstler ist ihr Vorschlag zur Weltwahrnehmung und Welterfassung. Ihr Mittel ist die Schaffung eines kreativen Raumes, in dem im Spannungsfeld zwischen Emotion und Ratio künstlerische Werke entstehen können. Die Grammatik der von ihnen geschaffenen individuellen Formensprache formt ihr Weltverständnis und gibt es an die Betrachter:innen weiter.

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