endoplast.de

Comic-Zeichenkunst: Wie die Weltwirtschaftskrise von 1929 den Zeichenstil von Marvel-Legende Jack Kirby prägte

Gesicht mit MondJack Kirby hatte als einer der legendärsten Zeichner der amerikanischen Comic-Strips (=Zeitungscomics) und vor allem Comic-Books (=Comic-Hefte) drei berufliche Leben, die die amerikanischen Comics jahrzehntelang beeinflusst haben. Geboren wurde der Comiczeichner 1917 in New York, gestorben ist er 1994 in Kalifornien. Bestimmt war sein frühes Wirken vor allem durch die erste Weltwirtschaftskrise in den USA. Aber inwiefern hat sie den Zeichner geprägt? EIn kleiner Ausflug in die Geschichte der amerikanischen Superheldencomics und ihre ökonomischen Bedingungen.

Jack Kirbys erstes Leben als Comiczeichner begann, als er 18 war und reichte von 1935 bis 1954. Denn 1954 war auch das Jahr, in dem die erfolgreiche Partnerschaft mit Zeichner und Autor Joe Simon endete. Mit Simon zusammen hatte er zum Beispiel „Captain America“ als nationalistische Konkurrenz-Ikone zum höchst erfolgreichen „Superman“ geschaffen.

Das Ende von Jack Kirbys und Joe Simons Partnerschaft

Die Partnerschaft des Teams endete wohl vor allem deshalb, weil die Comics in Amerika in die Krise geraten waren. Immer lauter war in jenen Tagen die Kritik an den Inhalten geworden, vor allem bezüglich ihres jugendgefährdenden Potentials. Zensur und Selbstzensur wurden zum Thema in einer amerikanischen Gesellschaft, die während ihres ökonomischen Scheiterns ab Ende der 1920er-Jahre an einer repressiven Paranoia litt. Das scheint – ob damals oder heute – die Auswirkung eines wirtschaftlichen Niedergangs zu sein: aufkommende oder drohende Armut gekoppelt mit der Zukunftsangst moderner Gesellschaften, die sich in der Krise auf tönernen Füßen wähnen, neigen zum Rechtsruck. Damit einher gehen die Einschränkung von Freiheiten und die Fokussierung auf symbolhaft vermeintlich Schuldige. Ob heute Asylanten oder damals unter anderem Comics oder Kommunisten – die Gesellschaft in der Krise will von sich ablenken und einen Schuldigen für ihr Scheitern an den Pranger stellen. Der fortschreitende Niedergang der Comics nach dem 2. Weltkrieg hatte aber noch andere Ursachen:

Fernsehen gegen Tageszeitung

Jack Kirby war weiterhin für die Comics tätig, obwohl immer weniger Verlage immer weniger Titel publizierten und der Siegeszug des Fernsehens als Medium der Stunde weiter voranschritt. Zum Verständnis der Situation ist zu bedenken, dass in den 1920er- und 1930er-Jahren immer noch die Tageszeitung der wichtigste Vertriebsweg für Comics war. Das geschah über die täglich abgedruckten Comic-Strips, die Comic-Kurz-Abentuer, vor allem aber über die Wochenendbeilagen, bei denen den Tageszeitungen ganze Zeitungsteile oder heftartige Ergänzungen beigelegt wurden. Mit dem Aufkommen des Fernsehens verloren die Tageszeitungen an Auflage und es begann das Zeitungssterben – eine Situation, die an die heutige Mediensituation erinnert, bei der das Internet als Vertriebsmedium für Information und Unterhaltung Printmedien, dem etabliertem Fernsehen und sogar dem Kino (via Film-Streaming a la Netflix) verdrängende Konkurrenz macht.

Weltwirtschaftskrise 1929 und der „Black Friday“

Zu bedenken ist auch, dass Jack Kirbys beruflicher Werdegang unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise stand, die bis Mitte der 1930er-Jahre dazu geführt hatte, dass es in den USA zu Massen-Entlassungen, Massen-Arbeitslosigkeit und Massen-Armut gekommen war. Begonnen hatte alles, als Jack Kirby gerade mal 12 Jahre alt gewesen war. Mit dem Crash der New Yorker Börse datiert auf den 24. Oktober 1929, dem sogenannten „Black Friday“. Zwar war die darauf folgende Weltwirtschaftskrise vier Jahre später, 1933, im Kern beendet aber das Vertrauen der Kleinanleger war nachhaltig erschüttert, noch die ganzen 1960er-Jahre hindurch. Die sogenannte „Great Depression“, die Zeit, in der die ökonomischen Verhältnisse an den Amerikanern nagten, wird vom Schwarzen Freitag bis 1941 datiert, denn 1941 war das Jahr, in dem in Amerika wieder Vollbeschäftigung erreicht war. Erst ganze 12 Jahre nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise.

„American Dream“ und „New Deal“

Die bitteren wirtschaftlichen Verhältnisse der Perspektivlosigkeit prägten bis dahin gerade Geringverdiener, und sie formten die Kultur. Der „American Dream“, gemäß dem jeder Amerikaner es „vom Tellerwäscher zum Millionär“ schaffen konnte, hatte zwischenzeitlich als Leitbild für viele ausgedient. Auch der sogenannte „New Deal“ zwischen 1933 und 1938 konnte da nur bedingt helfen. Er war ein sozial- und wirtschaftspolitisches Maßnahmenpaket, das den Folgen der Wirtschaftskrise entgegenwirken sollte. Unter anderem wurden durch die staatliche Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme „Civilian Conservation Corps“ für Millionen arbeitslose Amerikaner Arbeitsplätze geschaffen. Zum New Deal gehörte übrigens auch, Amerikanern über günstige Kredite Wohneigentum zu verschaffen. Ein Versprechen, das sich mit der zweiten Weltwirtschaftskrise in 2007, wieder ins Gegenteil verkehrte: Über 10 Millionen Hausbesitzer waren diesmal davon betroffen:

Dies konnte im Nachhinein durch Schadensersatzzahlungen der Banken zum Teil wieder abgemildert oder ausgeglichen werden, das Trauma für die meisten Geschädigten saß aber dennoch tief.

Film Noir: Weltwirtschaftskrise und Kultur

Zwei Faktoren gruben sich in der Zeit der ersten Weltwirtschaftskrise tief in die amerikanische Seele: Zum einen war Arbeit Mangelware, man musste sie festhalten, wenn man welche hatte, zum anderen war der Vorstellung einer goldenen Zukunft mit Vorsicht zu begegnen. Damit war die kollektive amerikanische Zuversicht ambivalent und brüchig geworden. Der Trick, prekären Verhältnissen durch den Glauben an das Unmögliche entgegen zu wirken, was den Kern des „American Dream“ ausmachte, funktionierte nicht mehr. Dafür gab es einige kulturelle Indikatoren. Zum Beispiel entstand zeitversetzt der „Film Noir“ zwischen Anfang der 1940er-Jahre und Ende der 1950er. Genauer gesagt, wurde die Phase des Film Noir mit dem Film „Die Spur des Falken“ im Jahr 1941 von Regisseur John Huston mit seinem Hauptdarsteller Humphrey Bogart eingeleitet. Sein Ende markierte der Film Noir mit „Im Zeichen des Bösen“ von und mit Orson Welles 1958. Der Film Noir war die ästhetische Bewältigung und Ausformung der wirtschaftlich-ökonomischen Despression. Er vermittelte eine pessimistische oder realistische bzw. weniger eskapistische Weltsicht, als das das Medium Film vorher getan hatte.

Jack Kirby: Wege aus der Armut

Jack Kirby war von all dem geprägt. Er kam aus einem ökonomisch besonders gebeutelten Stadtteil, der Lower East Side Manhattans in New York City. Sein Vater war Arbeiter in einer Textilfabrik. Jack Kirby, der mit bürgerlichem Namen Jacob Kurtzberg hieß, wollte der Armut entfliehen und sich eine Perspektive schaffen. Mit 14 ging er zur renommierten Kunsthochschule „Pratt Institue“, blieb dort aber nur eine Woche. Das Pratt Institute brachte später Comic-Zeichner wie Daniel Clowes, Jules Feiffer, Malcolm Jones IIl oder Mort(on) Meskin hervor. Jack Kirby stellte den dort vermittelten künstlerisch-elitären Ansatz, bei dem Zeichner sich lange mit ihrer Bildsprache auseinanderzusetzen hatten, infrage. Er, der Junge aus der Arbeiterklasse, konnte mit dem Kunstgedanken, der zu weit weg von seiner Lebenswirklichkeit war, nicht viel anfangen. Für Kirby ging es zeitlebens um’s zuverlässige „Liefern“: Was zeichnerisch nicht schnell zu realisieren war, passte nicht zu seinem Ansatz, Geld zu verdienen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können und gesellschaftlich nach oben zu kommen. Weggefährte John Romita Senior hatte darüber berichtet, als Kirby Anfang der 1970er-Jahre von Marvel Comics zu Konkurrent DC Comics gewechselt war und von dort aus Zeichner anwerben wollte. Demnach habe Kirby den Langsam-Zeichner Romita dazu überreden wollen, für ihn zu arbeiten – aber unter der Bedingung, schneller als bisher zu zeichnen, womit er, Kirby, ein höheres Einkommen assoziierte, weil die Produktivität höher war. Das war Kirbys Antwort auf das Trauma der Weltwirtschaftskrise: Zeichen konnte unterhalten oder ambitioniert sein, aber immer sollte es schnell erfolgen, vermutlich weniger bewusst und mehr assoziativ, quasi aus dem Handgelenk heraus. Man kann annehmen, dass Kirby manche spätere Comic-Kunst nicht ganz für voll nehmen konnte, die zu viel Zeit für ihr Entstehen brauchte. Dies sollte sich erst ändern, als Kirby alt geworden war und seinen Glauben an die Comics relativiert hatte.

Zeitfaktor: Jack Kirby, der Schnellzeichner

Zeit war für Jack Kirby jahrzehntelang der wesentliche Faktor seines Berufes gewesen. Die Rechnung war ganz simpel: Je schneller er zeichnete, desto mehr verdiente er, weil er pro Seite bezahlt wurde. Das war ideal für Jack Kirby, denn er muss ein Mensch gewesen sein, der sehr unmittelbar auf Reize reagierte und so äusserst schnell inspirierbar war. Bei Marvel bekam er von Stan Lee Grundideen für Geschichten oder Charaktere, den Rest der eigentlichen Geschichten-Entwicklung erledigte Kirby während des Zeichnens. Dabei reagierte er assoziativ sowohl auf die Ideen Lees als wohl auch von Bild zu Bild auf seine eigenen Zeichnungen. Aus jedem Bild schien sich ohne langes Nachdenken für den Beobachter seines Zeichenprozesses wundersamerweise das nächste zu ergeben. Kirby reagierte auf seine eigenen Bilder und trieb die Story so parallel inhaltlich und zeichnerisch voran. Da der Plot im Grunde immer der gleiche war – „Superheld begegnet neuer außergewöhnlicher Bedrohung und meistert diese“ –, war dies erzählerisch im Trivialmedium „Comic“ im Bereich des Möglichen.

Jack Kirbys Vorbilder

Am Anfang legte sich Jack Kirby verschiedene Pseudonyme zu, wie „Jack Curtiss“, „Curt Davis“, „Ted Grey“, „Charles Nicholas“, „Fred Sande“, „Teddy“ oder „Lance Kirby“, bei „Jack Kirby“ blieb es dann. Woher der Name „Kirby“ kam? Vielleicht war er vom Cartoonisten Rollin Kirby entlehnt, der eines der Vorbilder Jack Kirbys war. Der Autodidakt Jack Kirby brachte sich nämlich das Zeichnen bei, indem er Comic- oder Cartoon-Charaktere aus den Tageszeitungen nachzeichnete. Dass auch solche realistischen klassischen Zeichner wie Hal Foster („Tarzan“ und „Prinz Eisenherz“ bzw. „Prince Valiant“) oder Alex Raymond („Secret Agent X-9“, „Flash Gordon“ und „Rip Kirby“) zu seinen Vorbildern zählen, sieht man an seinen vielstrichigen ersten Comics, die vor allem stark an den frühen Raymond erinnern. Aber stilistisch viel näher ist dennoch Milton Canniff („Terry and the Pirates“ und „Steve Canyon“), der einen einfachen und dynamischen Zeichenstil hatte und in der Lage war, auch mit simplen zeichnerischen Mitteln ein Maximum an Ausdruck zu erzeugen. An anderen Vorbildern, den Cartoonisten aus den Zeitungen, schien Jack Kirby ihre Spannbreite zwischen cartoonhafter Vereinfachung und artifiziellem handwerklichen Können zu bewundern. Insgesamt waren Teil der Tradition amerikanischer Illustrationskunst komplexe Schraffuren, die in der Tradition von Kupfer- und Stahlstichen standen. Die Wirklichkeit wurde auch noch lange nach der 1900-Jahrhundertwende zeichnerisch meist in vielen Strichen wiedergegeben. Meister wie Will Eisner oder Alex Raymond zeichneten in ihren Anfangstagen viel detail- und strichreicher als später. Alex Raymond verfeinerte sein Strichwerk im Laufe der Zeit, Will Eisner vergröberte es. Andere Zeichner wie Frank Frazetta oder Joe Kubert blieben bei ihrem strichreichen Stil und wirkten deshalb bald altmodisch.
Jack Kirby fand seine Vorbilder auch in politischen Tageszeitungs-Cartoonisten wie C.H. Sykes, Jay Norwood „Ding“ Darling, und dem erwähnten Rollin Kirby als erstem Pulitzer-Preisträger im Bereich „Editorial Cartooning“. Kirbys Stil erscheint in seiner Vereinfachung zuweilen denn auch cartoonesk.

Wenig Striche, viel Flächen: Jack Kirbys Zeichenstil

Jack Kirby hatte sich zu entscheiden: Damit er kontinuierlich Geld verdienen konnte, musste er schnell sein, am besten schneller als jeder andere. Dabei konnte er sich zu viele Strichdetails nicht mehr leisten, weshalb er seinen Stil immer weiter vergröberte. Interessant ist, dass er zwar mit weniger Strichen auskam aber über die Mittel verfügte, dennoch verblüffende flächige Details einzusetzen. Denn das war seine Lösung: Plakative Darstellungen mit visuellen Effekten, vor allem aber wenige meist relativ dicke Konturenstriche und dafür mehr Flächigkeit. Man bedenke dabei, dass Kirby einen schwer zu zeichnenden Charakter wie Ben Grimm, genannt „das Ding“, schuf. Das war innerhalb der Comicheft-Serie „Fantastic 4“/„Die Fantastischen Vier“ ein Wesen, dessen Hautoberfläche aus kleinen Steinen bestand. Kirby hatte die zeichnerischen Mittel, „The Thing“ überzeugend aus einer großen Anzahl kleiner Steine zusammenzusetzen und darzustellen. Allein das war über ein Heft hinweg viel Arbeit. Kirby löste das Problem auch dadurch, dass er einzelne Steine des Steinwesens mit kleinen Schattenflächen versah, was Räumlichkeit und Dimension vermittelte. Beim Start der Serie zeichnete Kirby Ben Grimm noch einfacher. Als er als Zeichner im Laufe der Zeit über sich hinauswuchs, wurde die Figur immer detailreicher und realistischer. Die zeichnerische Darstellung von Ben Grimm als Steinmann wurde bei Marvel Gradmesser für die visuelle Potenz eines Zeichners. Niemand bis auf Barry Windsor-Smith reichte dabei an Jack Kirby heran – und das bis zum heutigen Tag, viele Jahre nach Kirbys Tod. Andere Zeichner wie John Buscema, John Byrne, Steve McNiven oder Salvador Larocca zeichneten auf ihre Art „Das Ding“ aber auch hervorragend.

Jack Kirbys erstes Comic-Zeichner-Leben

Zeitlebens arbeitete Jack Kirby wie am Fließband, schätzungsweise 25.000 Seiten Comics soll er gezeichnet haben. Keiner war so schnell wie er, Kirby lieferte und lieferte und zeichnete sich damit heraus aus dem Trauma der Armut. Je länger Jack Kirby zeichnete, desto weniger Striche verwendete er, um zu erreichen, was er ausdrücken wollte. Das erste Leben von Jack Kirby als Zeichner vollzog sich in einem seltsamen Spannungsfeld: auf der einen Seite wirtschaftlicher Notstand, auf der anderen Seite gilt die Zeit der Jahre speziell zwischen 1938-1940 als der Kern des Goldenen Zeitalters der Superhelden-Comics, in dem legendäre Figuren geschaffen wurden:

Das erste Arbeits-Leben des Comiczeichners Jack Kirby endete also in einer Zeit, in der man gelernt hatte, den Gürtel in Amerika enger zu schnallen und in der man froh war, zu denen zu gehören, die Arbeit hatten.

Jack Kirbys zweites Comic-Zeichner-Leben

Im November 1961 erschien das erste Heft der „Fantastic Four“, das von Stan Lee getextet und von Jack Kirby gezeichnet wurde. Es war ein Markstein im zweiten zeichnerischen Leben Jack Kirbys. Man bedenke: Jack Kirby war nun 44jährig bereits seit 1935, also seit immerhin 26 Jahren, Comiczeichner. Diese zweite Phase der Comics wird das „Silver Age“/das „silberne Zeitalter“ genannt.
Die letzten Jahre der 1950er-Jahre waren für Kirby schwieriger geworden. Mit der Trennung von Partner Joe Simon hatte er auch ihr gemeinsames Studio aufgegeben und arbeitete als Freiberufler an verschiedenen Projekten. Simon war als Zeichner zurück in die Werbebranche gegangen. Kirby hatte bereits für die Verlagsvorläufer von Marvel-Comics, Timely und Atlas, gearbeitet und fand, so beschrieb er es in einem Interview aus seiner Sicht, Marvel-Comics quasi am Boden vor. Zusammen mit Simon hatte sich Kirby einen guten Namen in der Branche aufgebaut und in den goldenen Zeiten ein paar Millionenseller landen können. Berühmt und umstritten war z.B. das „Captain-America“-Heft Nr. 1, auf dem Adolf Hitler von „Cap“ besiegt wird.
Verleger Martin Goodman wollte mit Stan Lee als Autor etwas Neues starten. Da DC als Konkurrenzverlag ein Jahr zuvor, 1960, die „Justice League of America“ (= „JLA“ oder früher „Gerechtikkeitsliga“) als Superheldengruppe in Form einer Heftserie sehr erfolgreich herausgebracht hatte, sah Marvel die Chance, ebenfalls mit einer neuartigen Superheldengruppe zu punkten. Die Rechnung mit Kirby als Zeichner der „Fantastic 4“ ging auf, obwohl im Rückblick betrachtet die Zeichnungen Kirbys noch wenig inspiriert wirkten. Er hatte 26 Jahre lang ein immenses Arbeitspensum an den Tag gelegt, mit Captain America eine ikonische Figur entwickelt und mit den Romantik-Comics gleich ein ganzes neues Genre mit erfunden. Interessant ist, dass er bereits in den alten Captain-America-Heften einen neuen zeichnerischen Ansatz verfolgt hatte. Bereits zwischen 1941-1954 in den 78 Captain-America-Comicheften bei Marvel-Vorläufer „Timely Comics“ hatte er einen dynamischeren Zeichenstil entwickelt. Der ließ die reguläre Anatomie machmal außer Acht, um den Grad der visuellen Dynamik zu erhöhen. Doch um zeichnerisch wirklich Neues zu schaffen, brauchte man Rückhalt, Mut und die richtige Atmosphäre – zum Beispiel eine von innovativen Comics begeisterte Leserschaft. Genau das bot Marvel, und so begannen die 1960er-Jahre mit einem Knall. In Stan Lee hatte Jack Kirby einen extrovertieren Partner, der in der Lage war, große Visionen zu entwickeln.

Das Konzept der Comicheft-Serie „Fantastic Four“

Ab dem ersten Heft waren die „Fantastic 4“ ein Verkaufserfolg. Ihre Fähigkeiten waren ungewöhnlich:

Das war aber nur die Oberfläche ihrer Superhelden-Fähigkeiten. Schnell ging es um ihre inneren Konflikte, um das Familienleben, die Gruppendynamik mit ihren menschlichen Auswirkungen und Abgründen, um den Gegensatz von Muskeln und Verstand und allgemein ganz simpel um Alltagsprobleme. All das waren Elemente einer neuartigen realistischen Personencharakterisierung, wie man sie vorher aus den Comics nicht kannte. Zudem konnte die Leserschaft Jack Kirby Heft für Heft dabei zusehen, wie er immer besser wurde, immer phantasievoller, wie er seine Figuren zusehends grafisch genauer ausarbeitete und seinen dynamischen Zeichenstil weiterentwickelte wie vor ihm kein anderer.

Jack Kirby als Bleistiftzeichner und Ideenlieferant

Wichtig zum Verständnis der Rahmenbedingungen der Comic-Kreation ist aber, dass Kirby fast ausschließlich nur die Bleistiftzeichnungen angefertigt hat. Ein Bleistiftzeichner leistet die kreative und gestalterische Arbeit, kümmert sich aber nicht um die Ausarbeitung mit Tusche bis ins letzte Detail. Gerade Kirbys Zeichenstil ließ manches Detail offen, war also interpretationsfähig. Andere Zeichner wie beispielsweise Jim Lee legen praktisch jeden einzelnen Strich fest, Kirby blieb ungefährer.
Um reproduktionsfertige Druckvorlagen zu bekommen, bei denen nur „richtiges“ Schwarz reproduziert werden kann, nicht aber das Grau des Bleisiftes, werden die Bleistiftvorzeichnungen arbeitsteilig von einem anderen Zeichner mit Pinsel und/oder Feder (oder heute mit Filzstift) mit schwarzer Tusche getuscht. Die Bleistiftlinien wurden vor der Kamerareproduktion wegradiert. Später arbeitete man mit hellblauen Bleistiftlinien, die von der Rreprokamera nicht gesehen wurden, weshalb man sie zeitsparend nicht wegradieren musste. In neuen Zeiten wurden die Seiten nicht mehr analog verfilmt sondern digital gescannt, und inzwischen arbeiten immer mehr Zeichner direkt digital am elektronischen Zeichenbrett bzw. direkt auf dem drucksensitiven Bildschirm.

Das Dreamteam Jack Kirby/Joe Sinnott formiert sich

Jack Kirby war es also gewohnt, dass ihn andere Zeichner tuschten und damit interpretierten. Die Qualität dieser Tuschzeichnungen war äußerst unterschiedlich. Nicht immer kann man sagen, dass sie eindeutig schlecht oder gut waren. Klar ist aber zweierlei: Die meisten Tuscher wurden dem Stil Kirbys nicht gerecht. Und es gab keinen Inker, der seine visuelle Sprache so gut verstand wie Joe Sinnott es tat. Joe Sinnott war ein vielbeschäftiger Tuschzeichner, der im Juli 1962 die Nummer 5 der „Fantastic 4“ tuschte, dann aber die Arbeit an der Serie für eine ganze Zeit wegen anderer Projekte einstellen musste. Erst im November 1965 mit der Nummer 44 begann er wieder, die „Fantastic 4“ zu tuschen. Von dieser Nummer 44 bis zur Nummer 102 im September 1970 arbeiteten er und Jack Kirby durchgehend zusammen und schufen die damailg eindrucksvollste Marvel-Serie. Skurilerweise kam später noch die Nummer 108 hinzu, die von Kirby teilweise vorgezeichnet und von Nachfolger John Buscema und John Romita überarbeitet und ergänzt worden war. Dieses Werk ist mit seinen Zwischenschritten in einer Hardcover-Edition verlegt worden. Auch hier war Sinnott der Tuscher. Außerdem arbeitete das Team Kirby/Sinnott an sechs Marvel Annual-Ausgaben mit den „Fantastischen Vier“, die im Zeitraum zwischen 1961-1971 veröffentlich worden waren.

Vorzeichner Jack Kirby und Reinzeichner Joe Sinnott

Jack Kirby hatte zu dem Zeitpunkt, als Sinnott wieder zu Marvel stieß, viel Routine bezüglich der vier Hauptfiguren bekommen, die alles andere als einfach zu zeichnen waren. Ein Mann, der in Flammen aufging, ein anderer, der aus Steinen bestand, einer, der sich dehnen und verformen konnte und eine, die sich ganz oder halb transparent machte, waren auch grafisch eine Herausforderung. Kirby hatte sich weiter verbessert und seinen Zeichenstil prägnanter werden lassen: Weniger Linien, mehr Flächen und mehr visuelle Effekte. Zu diesen Effekten, für die er berühmt wurde und die die Superhelden-Comiclandschaft prägten, gehörten zum Beispiel die sogenannten „Kirby-Krackles“ oder „Kirby-Dots“. Das war eine Punktstruktur, die Energie symbolisieren sollte. Zusammen mit Bewegungs- und Kraftlinien, die Dynamik ausdrückten, wurden solche Elemente prägend für den Kirby-Zeichenstil. Der Erfolg der Serie motivierte Kirby immer mehr, zudem hatte er inzwischen ein gutes Auskommen. Er konnte sich also mehr auf seine Lieblingsserie konzentrieren und seiner Phantasie freien Lauf lassen. Vieles änderte sich, nicht nur die zeichnerische Darstellungsweise, auch Kirby als Designer erlebte neue Höhen. Die von ihm geschaffenen Figuren, ihre Kleidung, Rüstungen und Uniformen, die Decors und Interieurs bildeten nie gesehene Phantasiewelten. Joe Sinnott war ein Tuschzeichner, der es vermochte, all das aufzuwerten und zu veredeln. Sein Stil passte kongenial zu dem von Kirby.

Jack Kirbys drittes Comic-Zeichner-Leben

Kirby hatte nach Marvel bei DC-Comics mit „Omac“, „Kamandi“ und insgesamt der serienüberspannenden „4th-World“-Saga interessante Figuren geschaffen, aber seinen zeichnerischen Zenit hatte er überschritten. „Kamandi“ etwa beinhaltete gute Ideen, die zeichnerische Konsequenz, Leidenchaft und Manie aus Tagen der „Fantastic 4“ fehlte Kirby aber inzwischen. Mit dem Weggang von Marvel war Jack Kirby auch sein Sicherheitsgefühl genommen worden. Er, der erfolgreiche Freelancer, wurde zwar bei Konkurrent DC-Comics mit Kusshand genommen aber bald sollte sich herausstellen, dass seine Titel bis auf Kamandi nicht zugkräftig genug waren. Laut Zeichner-Weggefährte John Buscema war das Ausscheiden Kirbys bei Marvel von einer Auftragsreduzierung seitens Verleger John Goodmann initiiert worden. Auch nagte die Wut darüber an Kirby, dass ihm von Marvel das Urheberrecht an seinen Figuren abgesprochen worden war. Kirby hatte sich vor dem Hintergrund seiner Flucht aus der Armut von seinen Einnahmen als Freelancer und seinen bisherigen Erfolgen blenden lassen. Als Geschäftsmann hatte er wenig erfolgreich agiert. So hatte er selbst die Rechte an der Eigenkreation „Captain America“ an Marvel-Comics abgetreten, während Kollege Joe Simon und Stan Lee ihre Rechte in Prozessen vor Gericht erfolgreich einklagten. Kirby ging leer aus und musste sich Sorgen um sein Auskommen im Alter machen. Das alte Gespenst der Weltwirtschaftskrise von Armut, Bedeutungslosigkeit und Perspektivlosigkeit ging wieder um.

Jack Kirby und die Wahl der Mittel

Jack Kirby war ein Mann klarer Positionen. In Interviews wirkte er verbindlich und klar – genauso, wie sein Zeichenstil prägnant, klar und deutlich war. Mit relativ wenigen groben Strichen vermochte Kirby es, etwas auszudrücken. Diese wenigen groben Striche waren aber nicht seine bewusste Wahl sondern mehr eine Notwendigkeit: Wenn er möglichst viel Geld verdienen wollte, musste er möglichst viele Seiten fertigstellen, wollte er viele Seiten fertigstellen, musste er seinen Stil weiter vereinfachen und bezüglich seines Ausdrucks optimierten. Es ging bei Kirby um die Ökonomie des Ausdrucks. Hätte er alle Zeit und alles Geld der Welt gehabt oder wäre er aus behüteten Verhältnissen gekommen, wer weiß, vielleicht wären seine ikonischen Vereinfachungen nie entstanden.

Weitere Artikel zu Jack Kirby:

Die mobile Version verlassen