Illustration KopfZuweilen kann man den Eindruck gewinnen, dass Einfachheit das höchste Ziel ist – und das in ganz unterschiedlichen Disziplinen, wie in der Mathematik, in der Kunst, im Grafik-Design, im Objekt-Design oder in der Architektur. Wichtiger noch: ebenso in der Politik und im Erkenntnisprozess. Aber darf man der Einfachheit vertrauen?

Bei der Gewinnung von Erkenntnissen ist Einfachheit schon deshalb praktisch, weil Erkenntnisse so verständlich und damit handhabbar werden. Hohe Komplexität aber auch ein hohes Abstraktionsniveau – kurz: Sachverhalte, die sich nur um mehrere Ecken gedacht erschließen – bleiben schwer verdaulich und für viele unverständlich. Aber selbst höchste Komplexitätsniveaus gekoppelt mit hochgradiger Abstraktion, wie das in der Mathematik gang und gäbe ist, scheinen sich nach schrittweiser Vereinfachung hin zu einer einfachen Formel zu sehnen. Aber warum ist das so? Könnte in mathematischen Formeln verdichtete Wirklichkeit nicht komplex bleiben?

Wenig Worte in der tosenden Reizüberflutung

Vielleicht hängt es mit der Augenfälligkeit zusammen. Man kennt das aus der Literatur: Wer es versteht, mit wenig Worten viel auszusagen wie etwa Hermann Hesse in „Siddhartha“ oder Samuel Beckett in Werken wie „Worstward Ho/Aufs Schlimmste zu“, „Trötentöne/Mirlitonnades“ oder auch „Erzählungen und Texte um Nichts“ verdichtet Sprache. Ist es nicht viel schwieriger, mit begrenzten, wenigen Mitteln einen Ausdruck zu erzeugen als mit allen verfügbaren Mitteln? Ist es nicht viel schwieriger, mit einem Wort Aufmerksamkeit zu erzeugen als mit einhundert? Aber die Frage ist gerade im Zeitalter der Reizüberflutung falsch gestellt. Dort nämlich ist die Einfachheit sowieso fast als Notwendigkeit zu betrachten, eine Art Rettungsring, um in den Informationsfluten nicht zu ertrinken.

Einfachheit gegen Komplexität

Eine komplexere Fragestellung müsste lauten: Ist durchgehende Einfachheit einer durchgehenden Komplexität vorzuziehen? Wenn man sein Lebensumfeld betrachtet, könnte man auch hier fragen: ist mein Leben einfach oder kompliziert? In der zeitlichen Abfolge mehrerer Antworten auf diese Frage, würde man vom Einfachen ins Komplizierte stolpern. Etwa: Ja, ich bin erfolgreich, ja, vieles ist einfach. Kommt man dann darauf, warum man erfolgreich ist und warum das Leben einfach erscheint, findet man meist mehrere Gründe und es folgen weitere differenzierende Verästelungen. Wohl auch deshalb, weil es für nichts nur einen Grund gibt, sondern tatsächlich ein begründendes und verursachendes Ursache-/Wirkungsgeflecht. So kann man sich beispielsweise als autarkes und in sich abgeschlossenes Wesen betrachten, was einfach und gut abgrenzbar sein mag. Wenn man sich als Wesen in einer Abfolge der Generationen betrachtet, ist man nur ein kleiner Teil eines komplexen Abfolgemechanismusses. Die Anschauung der eigenen Existenz wird dadurch komplexer und ist kaum noch zu erfassen. Denkt man allein daran, wie viel aufgespaltene Teile des Erbgutes vergangener Generationen man theoretisch in sich trägt, wird die eigene simple Existenz schnell zum Faszinosum.

Einfachheit als Konsumgut

Faszinierend wirkt etwas vor allem dann, wenn es nicht mehr vollständig erfassbar oder handhabbar ist. Die Komplexität ist für wenig Menschen begreifbar und verstehbar. So gibt es Bereiche in der Mathematik oder Physik, die nur noch eine handvoll Menschen auf unserem Planeten verstehen. Das heisst, über bestmmte hochkomplexe Gegenstände der Betrachtung können nur noch einige wenige Experten kommunizieren. Wollen sie ihre Betrachtungen und Erkenntnisse in die breite Öffentlichkeit tragen, geben sie nicht etwa Informationen auf einem hohen Komplexitätslevel weiter sondern sind bestrebt, das Erforschte, zu simplifizieren. Alle populärwissenschaftlichen Aussagen etwa über das „Schwarze Loch“ und seinen „Ereignishorizont“ sind bildhafte Vereinfachungen, um Komplexität konsumierbar zu machen. Einfachheit ermöglicht breitere Kommunikation. Simple Sprache ist für mehr Menschen verständlich als eine Fachsprache oder eine mathematische Formel.

Einfachheit in der Kommunikation

So wäre die Einfachheit der Komplexität vorzuziehen, weil sie mehr Menschen in den Diskurs einbezieht. Und dennoch ist das nur die halbe Wahrheit. Denn wenn man Komplexität reduziert, um sie handhabbar zu machen, lässt man Zusammenhänge weg. Das eingangs erwähnte Ursache-/Wirkungsgeflecht, der Umstand also, dass etwas mehrere sich gegenseitig bedingende Ursachen hat, so wie ein einzelner Mensch nicht nur eine Vorgängergeneration sondern hunderte hat, führt dazu, dass man aus der schwer überschaubaren Menge an Ursachen eine Hauptursache selektiert. Die Aussage zum Beispiel „Er kommt sehr nach seinem Vater“ oder „Er hat sehr viel von seinem Großvater“ zeigt klar, dass man sich auf das hier aktuell Wahrnehmbare konzentriert. Das ist ansich unseriös, nicht nur prinzipiell wegen dominant-ressiziver Erbgänge, die Generationen überspringen können, sondern vor allem, weil man die nicht wahrzunehmende, nicht erfahrbare genetische Genese des Menschen auf eine simple aber greifbare Beobachtung reduziert. Man hat damit die Unüberschaubarkeit hin zu einer Überschaubarkeit vereinfacht.

Erkenntnisse und Anschaulichkeit

Die Komplexität hat dadurch ihre Sperrigkeit verloren, und man könnte sowieso behaupten, dass Erkenntnisprozesse in der Breite von Anschaulichkeit geleitet sind. Das heisst: Um Verständlichkeit und den kommunikativen Austausch in der Gesellschaft zu fördern, muss Komplexität dadurch vereinfacht werden, dass man das Unwichtige weglässt, obwohl das Ursache-/Wirkungsgeflecht, das unsere Realität bedingt, vorhanden ist. Niemand hat alle Werke Sigmund Freuds gelesen aber viele kennen einige seiner Grundgedanken oder zumindest seine Grundidee des menschlichen Unterbewusstseins. Kein nichtgeschulter Mensch versteht die allgemeine oder die spezielle Relativitätstheorie, doch viele haben das Bild vom Raumfahrer im Kopf, der mit Lichtgeschwindigkeit fliegt und schließlich jünger als sein auf der Erde verbliebener Sohn dort wieder landet.

Einfach und komplex im Miteinander

Einfachheit und Komplexität sind also nicht als sich ausschließende Gegensätze zu begreifen sondern als Ergänzung. Komplexität beschreibt die Welt möglichst vollständig oder wenn sie abstrahiert möglichst anhand ihrer Prinzipien. Die Einfachheit macht Komplexität und abstrakte Prinzipien verständlich. Eine Verständlichkeit übrigens, die auch Fachleute immer wieder benötigen. Die Theorien und Bilder, die vom Universum entstanden sind – ob Stringtheorien oder Multiversen – sind vereinfachte Darstellungen theoretischer mathematischer Berechnungen. Sie sind konkrete Abbilder abstrakter Annahmen. Die Einfachheit bedient sich hier der Bildhaftigkeit als Mittel. Die Bildhaftigkeit ist im Hinblick auf Komplexität gepaart mit Abstraktion ein Mittel der Konkretisierung, ein Mittel im Hinblick auf Realitätstauglichkeit.

Einfachheit in der Gestaltung

Betrachtet man Einfachheit im Design oder in der Architektur, stößt man auch auf Glattheit, auf sterile Anmutungen oder auf zu wenig, an dem sich das Auge dauerhaft festhalten kann. Zu einfache Formen sind kurzfristig gut erinnerbar, werden aber schnell langweilig, weil sie zu schnell und zu nachhaltig rezipierbar und verstehbar sind. Zu starke Einfachheit ist gerade mittel- und langfristig eine Unterforderung der menschlichen Möglichkeiten und Rezeptionsgewohnheiten. Das heißt: Einfachheit im Mediendesign schafft eine Beschleunigung der Wahrnehmung auf den ersten Blick. Komplexität sorgt für Nachhaltigkeit im Wahrnehmungsprozess, etwa durch einen Anteil im Entwurf, der nicht sofort zu verstehen ist und deshalb neugierig macht.

Einfachheit der Politik

Einfachheit verfälscht die Welt, hat aber den Vorteil, dass diese reduktionistische Sicht schnell verstehbar ist. Komplexität wird den Wirkmechanismen der Wirklichkeit gerecht, mit dem Nachteil, dass die Zusammenhänge nicht oder nur schwer zu verstehen sind. Dieses Phänomen findet man vor allem in der Politik vor. Berühmt-berüchtigt ist der Umstand, dass politische Parteien wissenschaftliche Mitarbeiter in der zweiten Reihe haben, die Themen durchdringen und inhaltlich erschließen. Zum Teil sind die Ergebnisse dieser Arbeiten aber zu komplex (oder inhaltlich zu unbequem), weshalb der Spitzenpolitiker die Inhalte auf ein komplexitätsreduziertes Niveau allgemeiner Verständlichkeit herunter bricht. Ob beim Thema Abgase, Erderwärmung, bei der Digitalisierung oder Steuergerechtigkeit, immer sollte es darum gehen, Einfachheit und Komplexität in Einklang also in ein Gleichgewicht zu bringen. Große Einfachheit ist attraktiv und mündet politisch mitunter in Populismus. Einfachheit ist politisch und erkenntnistheoretisch betrachtet auch oberflächlich während Komplexität Tiefgang hat. Man könnte es auch viel einfacher ausdrücken: Einfachheit ist eine Form, Komplexität ein Inhalt. Wenn man es so reduziert formuliert, hat man eine Menge Zwischentöne weggelassen, allerdings: verstanden hat das jeder, auch wenn die Botschaft falsch sein mag.