Sind füreinander da: Tom und Gerri (Bild: Prokino)

In seinem neuen Film beschäftigt sich der britische Regisseur Mike Leigh damit, wie Menschen mit dem Älterwerden fertig werden.

Tom und Gerri, gespielt von Jim Broadbent und  Ruth Sheen, sind in den späten mittleren Jahren, haben gute Jobs und sind schon seit Jahrzehnten verheiratet: Anspielungen auf ihre Namen quittieren sie nur noch mit einem höflichen Lächeln. Aus dem Feuer ihrer Leidenschaft ist inzwischen ein warmes und konstantes Glimmen inniger Zuneigung geworden, an dem sie sich und ihre Familie wie an einem Kaminfeuer wärmen.

„Another Year“ folgt dem Paar über den Verlauf eines Jahres: Im Frühling arbeiten sie in ihrem Schrebergarten, im Sommer geben sie eine Grillparty, im Herbst lernen sie die neue Freundin ihres Sohnes kennen und im Winter gibt es einen Todesfall.  Und zwischendurch laden sie immer wieder Freunde in ihr trautes Heim ein, wie die überkandidelte Mary und den übergewichtigen und  maßlosen Ken. Und bei diesen Besuchen wird immer deutlicher, dass Mary und Ken es im Leben längst nicht so gut getroffen haben wie unser Protagonistenpaar. Vor allem Mary wird seit ihrer Scheidung spürbar nicht mit der Einsamkeit fertig und macht sich Hoffnungen bei Tom und Gerris 30-jährigem Sohn Joe. Eine Illusion, der keine lange Lebensdauer beschieden ist.

„Another Year“ ist das, was man einen leisen Film nennt. Ein Film, in dem nichts wirklich Aufregendes passiert, indem sich das Drama aus den kleinen Szenen und Katastrophen des Alltags zusammensetzt. In erster Linie hat Regisseur Mike Leigh ein Film über das Älterwerden gemacht: Noch ein Jahr, noch ein Geburtstag, noch ein Grillfest, noch eine Beerdigung. All das hat für Tom und Gerri jeden existenziellen Schrecken verloren, denn sie haben längst verinnerlicht, dass das Leben in jedem Fall weitergeht. Sie sehen dem Alter entspannt entgegen, denn sie haben einander und ihren Sohn.

Tom und Gerri machen sich Sorgen um ihren alleinstehenden Sohn Joe - aber nur ein bißchen. (Bild: Prokino)

Dass es nicht für alle so rosig aussieht, demonstrieren Mary und Ken, die ebenfalls ihr halbes Leben schon hinter sich haben. Beide leben allein, und beide haben zuviel Zeit, mit der sie nicht wissen, was sie damit anstellen sollen. Vor allem auf Mary ruht der erzählerische Fokus und die Performance, die Darstellerin Lesley Manville mit ihr abliefert, ist in jedem Fall preiswürdig: Mit ihrer hysterischen Art ist sie enorm anstrengend und in ihrer weinseligen Vertraulichkeit gegenüber Tom und Gerri und den plumpen Annäherungsversuchen an Joe löst sie mehr als einmal schmerzhafte Fremdschamanfälle aus. Doch wenn ihre Verzweiflung über ihre Einsamkeit durchschimmert, die sie auf so durchsichtige Weise versucht zu übertönen, macht sie wiederum sehr betroffen: Sie ist ein Mensch, der sich heftig gegen die Erkenntnis wehrt, dass ihr das Leben eben nicht mehr alle Möglichkeiten bietet, und sich vor pragmatischen Lösungen in absurde Kleinmädchenphantasien rettet. Erst in der Schlusseinstellung scheint sie sich den Scherben ihres Lebens zu stellen. Diese leise Szene, in der Mary schweigt und nur noch über ihren desillusionierten Blick kommuniziert, gehört zu den emotional anrührendsten Kino-Momenten der letzten Zeit. Mary ist kein Mensch, den man mögen muss, mit dem man aber trotzdem mitfühlt.

Keine Solidarität unter Einsamen: Ken und Mary (Bild: Prokino)

Regisseur Mike Leigh hat mir Another Year wieder eines seiner Alltagsdramen gedreht, für die er bekannt geworden ist. Früher war er darin oft unerbittlich pessimistisch, wie in „All or nothing“ von 2002. Zuletzt schien er mit „Happy-Go-Lucky“ auf der Sonnenseite des Lebens angekommen sein. Oberflächlich scheint auch „Another Year“  zunächst mit seiner behaglichen Gartenparty- und Dinner vorm Kamin-Welt in diese Kerbe zu schlagen. Doch das Bild ist hier differenzierter und offenbart zwischen den Zeilen das Leiden der anderen, die man nie alleine sieht, sondern immer nur in Tom und Gerris Haus. So vermittelt der Film auch einen Makel an Tom und Gerris Fürsorge für ihre Freunde; denn sind diese wieder abgereist in ihre kleinen leeren Wohnungen, sind sie auch aus dem Sinn verschwunden. Dies wird am Ende des Films überdeutlich, als Mary eine unsichtbare Linie überschreitet und Tom und Gerri ihr mit kalter Schulter die Grenzen ihrer Gastfreundschaft aufzeigen. So scheint sich das Glück der einen nur durch die Abgrenzung zum Unglück der anderen definieren zu können. Eine Erkenntnis, die in der harmonischen und freundlichen Szenerie eine kühle Brise aufkommen lässt.

Die Hoffnung stirbt zuletzt: Mary macht Joe Avancen (Bild: Prokino)

„Another Year“ ist ein Film, in dem man älteren Menschen bei der Gartenarbeit, bei Grill- und Dinnerparties und  belanglosem Small Talk zusieht und der trotzdem lange nachhallt. Auch jüngeren Semestern ist er deswegen unbedingt zu empfehlen.