Zimmer mit Aussicht

Er war schon immer hier gewesen, hatte sich nie an einem anderen Ort aufgehalten und wollte auch gar nicht woanders sein. Und schon immer hatte er hier geschrieben. Genau genommen hatte er sogar nichts anderes gemacht. Wenn er bei sich war, schrieb er. Mal strengte es ihn mehr an, mal ging es ganz leicht und es bereitete ihm tiefe Freude. Aber es gab auch Momente, da brachte es ihm Höllenqualen, die ihn aufstöhnen ließen. Nicht auf Papier, schrieb er, das besaß er nicht. Nicht mit einem Stift, den hatte er nie in Händen gehalten.

Der Raum um ihn herum war eng, beengt fast, und doch umschlang ihn dieser und gab ihm Halt. Nie hatte er versucht auszubrechen, hatte nie in Erwägung gezogen mit einem Messer oder Beil, die Wände einzureissen und zu zertrümmern. Wahrscheinlich hätte es ihn umgebracht. Denn es war genau hier an diesem Ort, wo er seinen Blick einmal um sein ganzes Leben schicken und in der Weite verschwinden lassen konnte. Die Wände des ihm umgebenden Zimmers schluckten seine Geschichten, sogen alles auf, was er ihnen anvertraute, speicherten sie wie ein Schwamm und formten daraus bizarre Oberflächen.

Die Wand vor ihm sah aus wie gebürsteter Stahl, unnachgiebig und doch von einer Beschaffenheit, die einen danach gieren ließ, die Hand auszustrecken, den Werkstoff zu berühren und darüber zu streichen. Ganz in der Erwartung, dass auf der Haut ein schmeichelndes Gefühl zurückblieb, von dem man sich wünschte, dass es bis in die Ewigkeit andauern würde. Es waren seine Augen gewesen, die die Geschichten in das Metall gebrannt hatten. Und doch waren sie nur zu entziffern, wenn man die eigenen Augen schloss, den unteren und oberen Wimperrand aufeinander legte und miteinander verschmelzen ließ, bereit sie nie mehr zu öffnen. Auf die harte Betonwand rechts neben ihm, hatte er mit seinen Fingernägeln Worte eingeritzt. Die Rauheit hatte seine Finger mittlerweile zu blutigen Stumpen werden lassen, die die Beschaffenheit der Oberfläche nicht mehr erfühlen konnten. Die Wand triefte vor sattem Rot und die herunterlaufende Flüssigkeit, trocknete zu verkrusteten Nasen und Klippen und formte Fratzen der Einsamkeit. Die linke Wand erzählte vom Leben. Sie bestand aus pulsierenden Schläuchen, die sich von Rot nach Blau verfärbend zusammenzogen, um anschließend mit einem ekelhaften Geräusch auseinander zu schnalzen. Jeder dieser Schläuche wand sich in einem anderen Rhythmus, und hörte man den Geschichten zu lange zu, fing das Gehirn an, sich zusammenzusziehen und die Ohren transportierten nurmehr ein dumpfes Dröhnen in das Schädelinnere. Die Wand hinter ihm erzählte Geschichten, die der kalte Schweiß darauf hinterlassen hatte. Wenn die Furcht ihn zurückgetrieben und mit starken Böen daran geknallt hatte und der Schweiß seiner Haut Salzkristalle hinterließ, die von zersplitterten Tränen weggespült wurden. Das ständige Auflösen und Erstarren hatte diese Wand gleichermassen verweichlicht und hart werden lassen und es hatten sich scharfkantige Löcher gebildet, die den Weg in dunkelwandige Tunnel freigaben.

Der Boden unter ihm jedoch, auf dem er mit nackten Füßen stand, murmelte Worte der Liebe, denn die Sanftheit und Zartheit seines Geistes hatten dort im Schlafe die Geschichten diktiert. Wenn er sich matt niedergelegt hatte und es sich gestattete, seinen schmerzenden Körper in Träume fallen zu lassen, ohne die er sein Inneres verlieren würde. Wenn er aber daraus erwachte und seinen Blick nach oben richtete, dann erhob die ihn überspannende kuppelförmige Decke des Raumes ihre grauenvolle Stimme. Seine Schreie hatten diese Geschichten aufgenommen und manchmal waren sie so laut, dass er es nach seinem kurzen Schlaf nicht schaffte, aufzustehen. Zu mächtig waren die Laute, die ihn mit nackter Brutalität auf den weichen Untergrund drückten und seine Muskeln zu lähmen oder gar zu durchtrennen schienen. Doch die Sanftmut seiner Auflage unter ihm ließ ihn genau das ein fürs andere Mal überstehen.

Mehrfach hatte der Mann versucht, alle Wände um ihn herum abzuwaschen, die niedergeschriebenen Geschichten auszulöschen und sie in das Vergessen abzuschieben. Gerne hätte er wenigstens nur eine einzige reine weiße Wand gehabt, um auf ihr bei Null anfangen zu können. Aber er hatte es allenfalls geschafft, ein paar der alten Worte zu überschreiben.

Der Arzt nickt seinem Assistenten zu. „Sie können sie zumachen, wir hören auf. Es macht keinen Sinn.“ Der Assistent griff zu dem bereitliegenden Werkzeug. Mit fachmännischem Druck stach er die Nadel durch die Haut. Es dauerte eine gute Stunde bis die Naht fertig gestellt war. Sie war lang. Mit der Hand eines Könners hatte er den Faden mit der korrekten Stärke fest gezogen. Vom Hals über die Brust bis hinunter in den Schambereich war ein grünlicher Faden zu erkennen, der eine gewölbte Wulst aufwarf. Ihr Oberkörper sah aus wie der einer Stoffpuppe, um die sich zwei Kinder gestritten hatten, sie im Zweikampf auseinander gerissen und anschließend unter Tränen ihrer Großmutter gebracht hatten, damit diese sie wieder zusammenflickte. Der Arzt zog seine Handschuhe aus, ergriff das entnommene Organ mit bloßen Händen. Dann legte er seine Stirn daran, schloß die Augen, und rollte es hin und her bis sein Geist die unterschiedliche Beschaffenheiten der verschiedenen Flächen wahrgenommen und abgespeichert hatte. Dann ließ er es vorsichtig in ein mit mit Alkohol gefülltes Einweckglas gleiten und schraubte den Deckel darauf. Er stellte es vor sich auf den Tisch. Die Lampe über ihm leuchtete das Glas aus. „ Noch nie hab ich ein so zugerichtetes Organ gesehen.“, sagte er in den Raum hinein, „. Wie hat sie damit überhaupt so lange leben können.“

Sein Assistent hörte die Worte nicht mehr. Er war bereits gegangen. Es würde schwierig werden für seine verbleibenden Nächte eine neue Bleibe zu finden.