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Comiczeichenkunst: Träume als Jack Kirbys Phantasie-Makeup des Menschen

Manch ein Comiczeichner wirkt mit seiner Stilistik nachhaltig und betritt mit seinem originellen visuellen Ansatz Neuland. Solch ein Comicpionier zeichnet sich durch eine besondere Leistung in ästhetisch-erzählerischer Hinsicht aus, wie zum Beispiel Windsor MacCay mit seinem Little Nemo in Slumberland, der sowohl kreativ, handwerklich, quantitativ als auch erzählerisch dimensionssprengend war. Zudem ist der Pionier in aller Regel über einen langen Zeitraum tätig.

Auf Jack Kirby (1917-1994) trifft beides zu: über fünf Jahrzehnte lang war er für die Comics tätig, von 1938 an bis 1991, danach hat er schwerpunktmäßig für den Zeichentrickfilm gearbeitet.

Das Golden Age der Marvel-Comics

Seine erste publizierte Comicgeschichte war 1938 Jumbo Nr. 1, die letzte vollständig mit Bleistift vorgezeichnrte Geschichte war 1986 Super Powers Nr. 2 (II). Die Comics für Marvel das ganze Jahrzehnt der 1960er-Jahre hindurch im so genannten Silver Age waren seine kreativste zeichnerisches Phase. Sie dauerte genauer gesagt von 1958 bis 1970.

Jack Kirby, der fleissigste Zeichner aller Zeiten

Sieht man manchen Comiczeichner beim Zeichnen zu, wundert man sich darüber, wie einfach es ihm fällt, seine Figuren ohne Vorzeichnung oder Überlegung aus dem Ärmel zu schütteln. Wenn man eine Tätigkeit immer und immer wieder wiederholt – und das im Akkord über viele Jahre hinweg – dann denkt man über das Gelernte nicht mehr nach, es ist einstudiert und hat sich als Grundlage, von der man schlafwandlerisch ausgehen kann, festgesetzt. Jack Kirby war bei den Comics vermutlich der produktivste Zeichner aller Zeiten.

20 Dollar für eine Comicheft-Seite

Im Video erzählt Comicautor und Comicredakteur Len Wein von Kirbys Werdegang. Dort ist auch zu erfahren, dass Kirby 1964 allein ca. 1.100 Seiten für die Comicverlage gezeichnet hat. Insgesamt soll er über 25.000 Comic-Seiten vorgezeichnet haben. Die Tuschausführung der Seiten stammte in aller Regel jedoch von anderen Zeichnern. Der Umfang seiner Comiczeichnungen ist auch so zu erklären, dass er als Freiberufler permanent zeichnen musste, um genug Geld für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie zu verdienen; denn er wurde mit 18-20 Dollar pro Seite bezahlt – da zählt die Masse. In 2014 kam es zu einer außergerichtlichen Einigung der Jack-Kirky-Stiftung bzw. der Kinder Kirbys mit dem Disney-Konzern, der Marvel-Comics gekauft hatte, in der es um Jack Kirbys Rechte an den von ihm mitkreierten Marvelfiguren ging.

Die Comicfiguren, die Jack Kirby schuf

Kirby schuf zusammen mit Stan Lee eine Fülle an Figuren, die heute durch die Filmversionen bekannter denn je sind. Dazu gehören zum Beispiel bekannte Titel und Figuren wie: The Fantastic Four/Die fantastischen Vier mit Figuren wie Galactus, Uatu, dem Wächter, Doctor Doom, den Inhumans oder dem Silver Surfer, außerdem die X-Men mit dem Bösewicht Magneto, The Avengers/Die Rächer, Hulk, Thor, Iron Man, Spider-Man und Black Panther. Als Reboot der 1940er-Jahre wurden Captain America, Namor, der Sub-Mariner und Ka-Zar neu belebt.

Marvels neue Arbeitsweise: Zeichnen ohne Text

Die Arbeitsweise, die Stan Lee als Texter und Jack Kirby als Zeichner ab 1960 einführten war neu: Es gab kein detailliertes Vorab-Script für die Comicgeschichten, die zu zeichnen waren, nur einen lockeren Handlungsfaden. Kirby improvisierte sich von Bild zu Bild. In diesem Arbeitsprozess entstanden immer wieder neue visuell äußerst phantasievolle Geschichten. Die Sprechblasen wurden hinterher eingefügt und getextet, wodurch nicht die Zeichnung dem Text folgte, sondern der Text vor allem der Zeichnung. Das hatte etwas von einer Jazz-Improvisation. Allerdings war dies auch einfach eine pragmatische Arbeitsteilung. Stan Lee als am Anfang alleiniger Texter hätte niemals alle Geschichten ausarbeiten können, denn dann wäre er das Nadelöhr gewesen. Die Marvel-Arbeitsweise war also nicht nur frei und inspirierend, sie war auch unter zeitlichen Aspekten sinnig für einen reibungsloseren Arbeitsablauf.

Eine neue visuelle Comic-Sprache

Als Jack Kirby ab 1961 die Ikonografie der Superheldencomics schuf, wie sie für Marvel-Charaktere maßgeblich wurde, war er schon ein alter Hase im Geschäft und hatte fast drei Jahrzehnte Erfahrungen beim Fließbandzeichnen gesammelt. Diese einmalige Erfahrung, sein großes imaginatives Talent und seine zeichnerischen Fähigkeiten kummulierten mit den visuellen Erfordernissen des Superheldencomics, in denen Schlägereien und andere körperliche Auseinandersetzungen im Mittelpunkt des Geschehens standen. Es ging für einen Zeichner also darum, innerhalb der dargestellten Kampfhandlungen die Anatomie der dargestellten Personen zu dynamisieren und zu dramatisieren.

Überdramatisierung und Bildhaftigkeit

Ähnlich wie beim Stummfilm schien Kirby zu versuchen, die Bewegungsmöglichkeiten des Films in visuell übersteigerte Comicbilder zu übertragen. Kirby, der gelernt hatte, realistisch zu zeichnen, dessen Vorbild in vergangenen Zeiten Alex Raymond gewesen war, vereinfachte seine Darstellungsweise immer weiter und verformte die menschliche Anatomie. Er passte sie bei Kampfszenen der gewalttätigen Gesamtkomposition an und den Schlagrichtungen bzw. Richtungen der einwirkenden Kräfte, die für diese Darstellungen wichtig waren. Außerdem schuf er für die Darstellung aller möglichen nicht nur körperlichen Kräfte eigene Ausdrucksformen. Sein klarer und plakativer Zeichenstil, der mit dicken geschwungenen Linien arbeitete, war ausgerichtet auf Bewegung und Dynamisierung. Dabei war auffällig, dass Kirby Designs für Maschinen, Raumschiffe oder allgemein außerirdische Kulturen entwickelte, bei denen er detaillierter arbeitete, während er die menschlichen Protagonisten nur mit simplen Strichen darstellte. Menschen hatte Kirby ein Leben lang dargestellt, sie forderten ihn nicht mehr heraus.

Mr. Fantastic als Gliederpuppe

Die Science-Fiction-Elemente innerhalb des Superheldenkosmos hingegen waren auch für Jack Kirby neu und forderten sein ganzes kreatives Können. Dieses Zusammenwirken der neuen Ansprüche an einen versierten Zeichner führten dazu, dass Jack Kirby über sich hinauswuchs. Vor allem mit den Fantastischen Vier zwischen November 1961 und März 1971, die er sehr lange am Stück zeichnete und die er deshalb von Grund auf entwickeln und weiter verfeinern konnte, betrat Kirby neues zeichnerisches Terrain. Mit Reed Richards alias Mr. Fantastic hatte er einen Superhelden, der sich sogar dehnen und verformen konnte und an dem er auch anatomisch alles ausprobieren und grenzüberschreitend illustrieren konnte, was er an Verformungen am menschlichen Körper testen wollte. Eine glückliche Fügung war es, dass die meisten seiner Fantastic-FourComics von Joe Sinnott getuscht wurden, dessen Strich und Herangehensweise perfekt mit den Bleistiftvorzeichnungen Kirbys harmonierten.

Stummfilm, Tonfilm und Comics

Einen Einfluß der visuellen Prägnanz von Kirby mag man im Stummfilm sehen, der seine Generation nachhaltig geprägt hatte. Aber nicht nur der fehlende Ton macht den Unterschied zwischen Stummfilm und Tonfilm aus. Im Stummfilm haben die Schauspieler völlig anders agiert, jeder Gesichtsausdruck, jede Geste, jede Bewegung wurde übertrieben, es musste Überdeutlichkeit erzeugt werden, damit der Zuschauer die Handlung verstehen konnte. Der Arbeit von Regisseuren, die erst Stummfilme und dann Tonfilme drehten, sieht man diese unterschiedliche Herangehensweise besonders an – wie der von Fritz Lang oder Alfred Hitchcock. Nachdem der Ton als Medium vorhanden war, die technischen Möglichkeiten des Filmens und die Darstellungsqualität des Filmmaterials selbst sich gewandelt hatten, genügte manchmal eine zuckende Augenbraue, um etwas auszusagen, wo vorher dramatisch aufgerissene Münder und dauererschreckte Blicke im Stummfilm die Aussage verdeutlichen mussten. Vor allem die Dialoge fingen erklärend auf, was die Gesichter nicht mehr hergeben mussten. Alfred Hitchcocks ersten Tonfilmen konnte man ansehen, dass die Darsteller noch ganz anders agierten, als später: expressiver, deutlicher. Selbst seinen späteren Filmen sah man aber immer noch den Einfluß des Stummfilmes an. Hitchcock arbeitete oft mit wortlosen Szenen und ließ die Handlung ohne Text die Inhalte tragen.

Jack-Kirby-Comics in den Sechziger Jahren

Jack Kirby brachte in den Swinging Sixties bei Marvel sein ganzes Know-how ein, um einfache Szenen visuell zu optimieren. So wie der Ton und die Farbe in den Film kamen, brachte Jack Kirby im Alleingang Dynamik und Bewegung in die Comics. Bei vielen Funny-Comics lange vorher wurde die menschliche Anatomie karikiert, gestaucht und gedehnt, gerundet und übertrieben. Jack Kirby wandte diese augenzwinkernden Verrenkungen ganz ernsthaft auf seine Superheldencomics an, nachdem er bei den Comicheften das Genre des Liebes- und Romantik-Comic mit erfunden hatte, ebenso wie den Horror-Comic. In einer langen Phase zeichnete er auch Western-Comics. Das war aber bereits in den 1940er- und 1950er-Jahren. In dieser Zeit hatte er zwar seine eigene Formensprache entwickelt, gerade was Physiognomien und Körperhaltungen anbelangte, einen besonders ausgeprägten Zeichenstil hatte er aber noch nicht entwickelt. Die Wende kam erst mit den Marvel-Superheldencomics der 1960er-Jahre.

Die grafische Sprache der Superheldencomics neu definiert

Im Video sagt Jack Kirby, der Mensch würde realistisch handeln aber jeder hätte Träume – und diese Träume machten den Menschen größer als im normalen Leben. Darauf basieren seine Superheldencomics. Der Comic-Mensch der Phantasie als Ausdruck gesteigerter Möglichkeiten. Zeichner Dave Gibbons sagt an einer Stelle des Videos, Jack Kirby schreibe mit Bildern, und Zeichner Walt Simonson fügt hinzu, Kirby habe die visuelle Sprache der Superheldencomics sogar erst geschaffen. Das bezieht sich darauf, dass Kirby bei Marvel so etwas wie ein Konzeptzeichner gewesen ist. Er hat die Charaktere visuell geschaffen und entwickelt und oft nach ein paar Heften an andere Zeicher abgegeben. So ist wenig bekannt, dass es ebenfalls Jack Kirby war, der die erste Ausgabe von Spider-Man Nr.1 gezeichnet hatte. Seine Version wurde aber nie veröffentlicht. Zeichner Steve Dikto übernahm die Serie und zeichnete das erste Heft noch einmal neu.

Will Eisner über seinen Schüler Jack Kirby

Will Eisner, dem Schöpfer von The Spirit, in dessen Studio Kirby auch gearbeitet hatte, erzählt amüsiert im Video eine Geschichte, die ein bezeichnendes Licht auf Jack Kirby wirft: Es sei eines Tages, nachdem Will Eisner dem Reinigungsdienst gekündigt hätte, ein Vertreter der gekündigten Firma aufgetaucht. Der habe fast klischeehaft ausgesehen wie ein Mafioso und unterschwellig mit den Worten gedroht, dass das Haus, in dem Eisners Studio sich befand, zu seinem Gebiet gehöre. Jack Kirby habe das mitbekommen, habe sich von seinem Platz erhoben und mit deutlichen Worten eingegriffen, und das obwohl er von den Dreien der weitaus Kleinste gewesen ist.

Gewalt im Leben, Gewalt in Comics

Jack Kirby stammte aus ärmlichen Verhältnissen in New Yorks Lower Eastside, der Bowery, und hatte sich aus eigener Kraft hoch arbeiten müssen. Er selbst sagt von sich, dass Ben Grimm, der superstarke „Steinmann“ bei den Fantastischen Vier – alias The Thing/Das Ding – eine Karikatur seiner selbst sei. Kirby ist mit Gewalt groß geworden und war ein junger Mann, als es 1929 zum New Yorker Börsencrash und in Folge dessen zur Weltwirtschaftskrise gekommen war. Er hat gelernt sich durchzubeissen, was in die Gewalttätigkeit seiner Superheldencomics und deren Charaktere mit eingeflossen war. Die phantastischen Welten, die er damals gezeichnet hat, verarbeiten diverse Sagen und Mythen und künden letztlich davon, dass sich Gut gegen Böse durchsetzt und dass jeder Held zugleich stark wie auch schwach ist. In der Phantasie sieht Kirby eine Maske oder ein Makeup für den Realisten.

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