Harriet Tubman (c) Markus Meiser

Harriet Tubman (c) Markus Meiser

Es hat stattgefunden, das 45. Moers Festival. Sicher war das nicht, erst am 10. März stand die Finanzierung. Und auch die Zukunft des Festivals scheint wieder offen zu sein. Doch zunächst zu den guten Nachrichten, also zu den Highlights der

Musik

Reiner Michalke hat wieder ein abwechslungsreiches Festival kuratiert zwischen Minimalismus und Party, zwischen freier Improvisation und kompakter Pop-Musik. Er hat viele neue Talente gefunden und alte, bekannte in neuer Mischung angeboten. Da sollte für jeden etwas dabei gewesen sein. Sogar für Leute, die Pop-Musik hören. Die gibt’s ja auch noch, aber warum gerade in Moers?

Den Auftakt bildete Carolin Pook mit „pezzettino 8“, eine Stück für 7-8 Geigen und Schlagzeug-Elemente. Collagenartig, wachsend. Etwas für den ausgeruhten Festivalbesucher. Carolin Pook ist Moers aktuelle Improvisor in Residence. Man wird über das Jahr noch von ihr hören.

Anschliessend holte Jóhann Jóhannsson das Publikum runter auf ein ganz ganz niedriges Energie-Level. Zu einem körnigen schwarz-weissen Super-8-Film, in dem man daumengrosse Pinguine in der Antarktis herumstehen sah, hörte man lang ausgehaltende tiefe Töne. Minimalismus pur, um sich auf die Weite, die Tiefe und Verlorenheit der Antarktis einzulassen. Mir selbst war noch zu sehr nach Zappen zumute, als dass ich die Darbietung durchhalten konnte.

Die Direktheit der Straße

Die folgende No BS! Brass Band war genau das Gegenteil. Erdige Blechbläsermusik. Ein Bekenntnis zur Straße, zur Herkunft des Jazz. Direkte, kraftvolle, funky Musik steht beinahe im Gegensatz zu dem sauberen Handwerk der Musiker. So unverblümt direkt wurde ich schon lange nicht mehr angeblasen. Der Sound einer reinen Blechbläsertruppe ist eigen und erinnerte an diverse Vorkriegsbands. Doch wir hören hier keine alte Musik, sondern aktuelle tanzbare Mucke. BS steht übrigens für Bullshit. No Bullshit meint, hier geht es richtig zu Sache, und ih kann bestätigen, dass das so war.

Mit dem Harold López-Nussa Trio spielte eine von zwei kleinen kubanischen Klavier-Bands auf. Beide moderne Vertreter traditioneller kubanischer Musik. Harold López-Nussa entstammt einer angesehenen Musikerfamilie und lebt seit früher Jugend in den USA, der Musik seiner Heimat ist er treu geblieben. Er verwebt Latin und Jazz vollkommen ineinander und löste damit Begeisterung aus. Standing Ovations für die Band. In Moers keine Selbstverständlichkeit.

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David Virelles „Mbókó“ (c) Markus Meiser

Das andere US-kubanische Klavierquartett, das ebenso begeisterte, war „Mbókò“ von David Virelles. Viralles spielt percussiver, haut mit Vorliebe Akkorde in den Flügel. Statt altgedienter Folklore eine behutsame aber selbstverständliche Zueigenmachung und Verschmelzung verschiedener Elemente ohne jemals ihre Herkunft zu verleugnen.

Soll der Schuster bei seinen Leisten bleiben?

Den Samstag-Abend beschloss Cassandra Wilson, die in Europa nur selten live zu sehen ist, mit der Band Harriet Tubman. Cassandra Wilson bot sich als Projektionsfläche an, als „Bitch“ und machte das so gut, das so mancher im Publikum tatsächlich eine Abneigung gegen sie entwickelte, wie in anschliessenden Gesprächen zu erfahren war. Reife Leistung, Frau Wilson! Als Schmankerl spielte sie in vielen Stücken eine elektrische Gitarre auf dem Spielniveau einer engagierten Anfängerin. Mir gefiel es, diese Attitüde, jeder kann Musik machen. Doch vielen missfiel ihr Gitarrenspiel. Sie hätte es besser sein gelassen, hiess es in bierseligen Expertenrunden auf dem Camping-Platz.

Harriet Tubman war eine herausragende Band, die einen Moers-gerechten Auftritt auch im Alleingang hingekriegt hätte. Ihr Gitarrist Brandon Ross erschloss einen eigenen Soundkosmos mit häufigem Gebrauch des Vibrato-Hebels seiner Gitarre. Er entlockte auch dem 6-saitigen Banjo gerade in langsamen Stücken, für das es aufgrund seiner schnell absterbenden Töne nicht gemacht ist, eine ganz neue Note und adelte dieses undankbare Instrumente als ein Richtiges, nicht nur für Gimmicks taugliches.

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Casandra Wilson, Gitarre, Lichtshow (c) Markus Meiser

Step Accross the Border

In den 90er Jahren haben sich die Kids ohne den Umweg über eine instrumentale Ausbildung die ausgemusterten Synthesizer und Drum-Machines ihrer Eltern geschnappt und mit elektronischer Musik wie House und Techno einen neuen Musikzweig geöffnet, der seither nur wenig Verbindung zu der handgemachten traditionellen Musik hat. Gewiss wurden schon früh DJs mit ihren „Turntables“ in Bands geholt, siehe z.B. Liquid Soul, die Band des Saxophonisten Mars Williams. Und Synthesizer und Elektronik bereicherte die Jazz-Avantgarde schon in den 80igern. Auch fanden Melodieinstrumente hier und da Zugang zur elektronischen Musik. Aber der grundsätzliche Zugang zur Entstehung der Musik, die Kompositionsvorgänge waren doch sehr unterschiedlich. Die elektronische Musik hat sich die Lounges und Dance-Floors erobert und sie definiert.

In Moers traten am Sonntag Abend zwei Bands an, die direkt das Hoheitsgebiet der elektronischen Musik angreifen und es ihr – mit ausschliesslich „richtigen“ Instrumenten – gleich tun. Bei Dawn of Midi ist der Name Programm. Midi ist eine von Dave Smith und der japanischen Firma Roland in den 80er Jahren entwickelte Schnittstelle, um Musiknoten und Programmwechselbefehle über ein Kabel zwischen elektronischen Instrumenten zu verschicken. Bei Dawn of Midi ist das alles abgestellt. Die drei Musiker an Klavier, Kontrabass und Schlagzeug beschränken sich konsequent darauf, so zu spielen, wie einfache Step-Sequenzer es erlauben. Step-Sequenzer elektronischer Klangerzeuger haben zumeist ein 16tel-Raster, auf das Noten gelegt werden können. Alle vier Takte wird das Programm variiert, so als säßen drei Techno-Nerds an den Schaltern und würden mal sehen, was passiert, wenn sie eine Taste drücken. Die Musik ist stark ostentativ und man könnte meinen, den Bits und Bytes bei der Arbeit zusehen zu können.

Amino Belyamani spielt ein präpariertes Klavier – Handtücher dämpfen die Saiten – stark zurückgenommen, um dem Programm gerecht zu werden, jegliche Virtuosität ist tabu. Bassist Aakaash Israni ist durch leichtes Gleiten auf dem Griffbrett in der Lage, die die Tonhöhe verändernden Pitch-Rädchen der Synthesizer zu imitieren. Natürlich, auch das gehört zum Programm, läuft der sich regelmässig erneuernde Beat ohne Unterbrechung den ganzen Auftritt über im selben Tempo durch. Man kann dieses Konzert als eine einzige lange Ironie nehmen, oder sich entspannt zurücklehnen und genießen.

Rock’n’Roll auf Sangria

Mit zwei Saxophonen und einem Schlagzeug schnappt sich die folgende Band Moon Hooch aus den USA, drei junge Leute um die 21, die Dance-Floor-Music. Der tiefe, monotone, stampfende Rhythmus aus dem einen Saxophon, die einfache, singbare und repetitive Melodie aus dem anderen, geblasen mit unbändiger Kraft. Dazu ein treibendes Schlagzeug. Einfachste Songstrukturen. Fertig ist die krachige Party Mucke. Um es noch echter zu machen, kleistert ein aufdringlicher Echo-Effekt das Melodie-Saxophone zu. Wenn die Jungs mal singen, klingt es nach einem Besoffenen in einer Karaoke-Bar. Ihr Rappen klingt schon eher nach dem eigentlichen Ding. Die Jungs spielen, als ginge es um ihr Leben, auch in dieser Halle, in der nicht ein gottverdammter Gast Sangria aus Eimern schlürft. Diese Energie ist ansteckend. Schon bald verlassen die ersten Hörer ihre Stühle und tanzen im Mittelgang. Überraschenderweise sind die älteren Semester dabei ganz weit vorne. Doch auch die jüngeren folgen nach und so verwandelt sich die Festival-Halle in einen schwitzigen Underground-Club.

Auf der Höhe der Zeit auch der Auftritt der bemerkenswerten amerikanischen Sängerin und Gitarristin Becca Stevens mit dem britischen Multiinstrumentalisten und -talent Jacob Collier. Collier wurde bekannt durch Youtube-Videos, in denen er Songs coverte und alle Instrumente selbst einspielte bis hin zum mehrstimmigen Gesang. Sie covern Pop-Stücke und verleihen ihnen einen lyrischen Charme. Pop-Musik zwar, aber wenn sie so unschuldig und mit so viel Spielfreude daherkommt, dann gerne.

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Warped Dreamer, Stian Westerhus (c) Markus Meiser

Noch viele Bands wären zu erwähnen. Tim Isfort kam direkt von der Kommunion seines Kindes, noch im Anzug, zum Auftritt in die Festival-Halle und lieferte ein bemerkenswertes Programm. Warped Dreamer, fast eine Moers-Allstar-Band, improvisierten frei und konzentriert. Das Lisbon Underground Music Ensemble zeigte, wie eine frische, bewegliche Big-Band geht.

Licht: Show!

Die Halle hat eine moderne Lichtanlage, die für dieses Jahr noch um eine dritte Ebene für eine bessere Tiefenstaffelung erweitert wurde. Die Licht-Show war anspruchsvoll choreografiert und wirkte nur in den wenigen Momenten kitschig, in denen die musikalische Substanz es selbst war.

Das Drumherum

Für den Festival-Besucher, besonders für den, der alle vier Tage dort verbringt, ist das Umfeld ebenso wichtig wie die eigentlichen Konzerte. Das beginnt mit dem Camping-Platz, der erfreulicherweise bewacht wurde, was die Kriminalitätsrate deutlich senkte. Es waren Sanitäter in der Nähe und sogar Duschen vorhanden. Klassisch: Den Duschen geht das warme Wasser immer genau dann aus, wenn man selbst duschen will. Das ist scheinbar jedem so gegangen, der es versucht hat.

Vor der Festivalhalle tummelt sich die bestens ausgestattete Fressmeile. Hier fehlte es an nichts. Sogar anständigen Kaffee gab es. Leider schloss die Fressmeile um Mitternacht und das war schade. Wenn man deutlich nach Mitternacht aus dem letzen Konzert kommt, möchte man sich noch gerne unterhalten, über die letzen musikalischen Erlebnisse fachsimpeln. Die Moers-Musik hat eine gewisse Tiefe und verlangt danach, bei einem Bier weiter ergründet zu werden. Das wird dem Besucher des letzen Konzertes verweigert, was wirklich ärgerlich ist.

Als altes Moerser Kulturgut finden die Morning-Sessions in der Musikschule statt, zu denen sich Festival-Musiker recht spontan zu neuen Kombinationen einfinden und spannende Improvisationen liefern. Hier boten junge Moerser ein einfaches Frühstück feil. Vegan und ausschließlich vegan belegte Brötchen, auch in Körner-Variante und fair gehandelter Kaffee eines Zapatistischen Kollektivs. So hat man immerhin das gute Gefühl, dass von jedem Schluck Filter-Kaffee ein paar Cents in den Waffenankauf für eine gute Sache landen.

Politik/Finanzierung

Die dumme, schmuddelige Seite des Moers-Festivals ist – wie seit jeher – die Finanzierung. Die neue Halle war teurer als gedacht. Sie frisst jedes Jahr 200.000,- für die notwendige Instandhaltung. Und ihre Nutzung neben Jazz-Festival und Comedy-Fest ist offen. Wo sollen die Nutzer für eine Halle in Moers auch herkommen, wenn die Moerser sich ihre Nutzung nicht leisten können? Sollten die Städte Dortmund und Gelsenkirchen ihre Veranstaltungen nach Moers verlegen, um die Halle rentabler zu machen? Das ist doch eher unwahrscheinlich.

Die Finanzierung des Festivals war jedenfalls so nervenaufreibend, dass der künstlerische Leiter auf der Pressekonferenz des letzen Tages bekannt gab, er habe der Aufsichtsratvorsitzenden der Moers Kultur GmbH angeboten, seinen bis 2022 laufenden Vertrag vorzeitig aufzulösen. Nun muss der Aufsichtsrat prüfen, ob er Michalkes Vertrag vorzeitig auflöst oder Wege finden, ihn zu halten. Michalkes Aufgabe war nie die Finanzierung, doch war er darin so stark involviert, dass sie ihn zuviel Kraft kostete. Die SPD, das war schnell klar, steht hinter Michalke und will ihn halten. Die FDP steht hinter dem Festival und erwähnt kurz Michalkes Vorgänger, ihn selbst aber nicht. Und die CDU äussert sich dazu garnicht. Alle Parteien bekennen sich, das Festival „abhängig von der Finanzierung“ erhalten zu wollen. Die Finanzierung ist aber gerade ihr ureigener Beritt und hier fehlt es an Entschlossenheit und Rückrat. Wir sind also mitten in der Politik, mitten in der Provinzposse. Denn mal ehrlich, wovon will der christdemokratische Bürgermeister Christoph Fleischhauer denn Bürgermeister sein, wenn das weltbekannte Moers-Festival wegfällt? Dann doch nur von irgendeinem beliebigen niederrheinischen Provinznest, dessen Namen niemandem geläufig ist und das als Schildbürgerstreich eine eigene Halle ganz allein für ihr Comedy-Fest vorhält.