Es sieht aus wie die bisher unbekannte Form der Social-Media-Einwegkommunikation: YouTuber Rezo hatte vor der Europawahl ein gut recherchiertes Video-Polemik gegen CDU/CSU, SPD und AfD veröffentlicht, dessen Kern die verfehlte Politik gegen die Erderwärmung war. Ein Reaktion-Video der CDU war zwar gedreht aber nicht veröffentlicht worden. Was hat das einflußreiche Rezo-Video also gebracht?
Zunächst war die Reaktion der CDU wie bereits beschrieben eher diffamierend. Inhaltlich hat sie online mit Veröffentlichung einer PDF-Datei auf ihrer Webseite reagiert, die auf die Argumente eingeht. Davon abgesehen kann man aber zu dem Schluss kommen, dass gerade die CDU der älteren Jahrgänge und der hohen politischen Ämter mit Social Media und dessen Gepflogenheiten fremdelt.
Gesprächsbereitschaft: Ein Trick der CDU?
Andererseits hat Rezo auf die Einladung der CDU, mit ihm reden zu wollen, nicht reagiert. Dies unter Umständen aus nachvollziehbaren Gründen: Der alte politische Trick, einem brenzligen Thema die Zugkraft zu nehmen, indem man es hinter verschlossenen Türen verhandelt, um dann in einer nachfolgenden Pressekonferenz zu behaupten, man würde damit ja der Jugend zuhören, hat bisher bei ihm nicht verfangen. Rezo dürfte es auch deshalb schwer fallen, dialogbereit zu sein, weil die CDU ihn diffamiert hat. Letztlich fühlte er sich zudem unwohl, so in die Öffentlichkeit gezogen zu werden, inklusive Hassbotschaften und Morddrohungen. Die Reichweite des Videos, das wohl sein populärstes geworden ist, hat ihn sehr überrascht – der Medienzug kann einen zuweilen überrollen.
Hat das Rezo-Video die EU-Wahl beeinflusst?
Dann stellt sich die Frage, ob das Video die EU-Wahl beeinflusst hat. Genau zu sagen ist das nicht. Für die einen spricht dagegen, dass die vor dem Video erschienen Wahlprognosen tendenziell das tatsächliche Wahlergebnis vorausgesagt hatten. Dagegen spricht auch, dass der Stimmenanteil jüngerer Wähler in Deutschland relativ gering ist und dass die You-Tube-Zielgruppen meist keine CDU-Wähler sind. Die Kernzielgruppe des Videos hat also wenig Stimmmacht. Allerdings hat das Rezo-Video „Die Zerstörung der CDU“ inzwischen über 13 Millionen Aufrufe, es ist also davon auszugehen, dass es gesamtgesellschaftlich Diskussionen über den Klimawandel angestoßen hat. Stellt man die Zahlen von Prognose und Wahlergebnis für Deutschland gegenüber ergibt sich folgendes Bild:
- CDU Prognose: 27% Endergebnis: 28,7%
- SPD Prognose 17% Endergebnis: 15,6%
- Grüne Prognose 20,5% Endergebnis: 20,7%
- FDP Prognose 5,4% Endergebnis: 5,4%
- Linke Prognose 5,5% Endergebnis: 5,4%
- AfD Prognose 11,0% Endergebnis: 10,8%
Erhöhte Wahlbeteiligung bei der EU-Wahl 2019
Interessant ist andererseits die Höhe der Wahlbeteiligung speziell in Deutschland. Die ist erheblich höher als in den letzten 25 Jahren und könnte das eine oder andere Prozent verändert haben, zum Beispiel auch durch Einfluss auf vorher unentschlossene Wähler. Sie liegt auch rund 10% über der Wahlbeteiligung in der Gesamt-EU. Da das Rezo-Video zum bundesweiten Medienthema auch in Fernsehen und Printmedien wurde, könnten Diskussionen darüber die kritischen Argumente weiter in die Wählerschaft getragen haben. Die Wahlbeteiligungen 2019 und im Vergleich dazu von 2014 jeweils getrennt für Deutschland und Europa sahen wie folgt aus:
- 2019 Deutschland Wahlbeteiligung Europawahl: 61,4%
- 2019 Europa Wahlbeteiligung Europawahl: 50,82%
- 2014 Deutschland Wahlbeteiligung Europawahl: 48,1%
- 2014 Europa Wahlbeteiligung Europawahl: 42,6%
Warum sich die CDU geärgert hat
Was die CDU geärgert hat, waren aber noch andere Punkte. Etwa ihr mangelndes Vermögen, mit den Sozialen Medien konstruktiv umzugehen. Nun rächt sich, dass der Bundestag überaltert ist. Ihm fehlt die Kompetenz in gelebter Webkommunikation. Einzig der sechsundzwanzigjährige CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor konnte sich um Schadensbegrenzung bemühen, was jedoch ein hoffnungsloses Unterfangen war. Letztlich entscheidend für einen Machtapparat einer großen Partei ein einschneidendes Erlebnis war ihre relative Machtlosigkeit.
Annegret Kramp-Karrenbauer beisst sich am Web die Zähne aus
Des führte dazu, dass CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer ins nächste mediale Fettnäpfchen trat. In einer Rede nach der EU-Wahl regte sie an, YouTuber zu reglementieren. Auch wenn sie es nicht aussprach, es schwang mit, deren Meinungsfreiheit in ein Korsett zu stopfen. Aus „Meinungsfreiheit“ wurde in ihrer Rede „Meinungsmache“. Die einfache Logik: Die Selbstverpflichtung der wenigen seriösen überregionalen Zeitungen und Magazine, kurz vor der Wahl keine parteipolitischen Aufrufe zu starten, die seit langem Usus ist, müsse sich doch auch aufs Internet übertragen lassen. Allerdings verkennt sie, dass YouTuber keine Journalisten sind. Prompt wurde von denen eine Online-Petition gegen Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit gestartet: Der nächste Shitstorm war am Start.
Die Macht und die Herrlichkeit des Internet
Die aufgeheizte Atmosphäre erinnert ein bisschen daran, als die Musik in Form von MP3s digitalisiert wurde. Die Musikindustrie sah damals ihre Felle davon schwimmen, diffamierte und kriminalisierte Nutzer, die sich Songs aus dem Netz saugten, und bekam ein immer schlechteres Image. Sie war nicht in der Lage, ein positives Geschäftsmodell dagegen zu setzen, indem sie das Web für sich nutzte, um damit Geld zu verdienen. Ihr Mittel war plumpe Machtausübung, was zu nichts Positivem führte. So kam es, dass die ehemalige Platten- und CD-Industrie schrumpfende Umsätze zu verzeichnen hatte und in die Krise geriet. Erst Apple hatte dann ein finanziell attraktives Modell entwickelt und verdient über den Vertriebsweg „iTunes“ noch bis heute viel Geld damit.
Genau wie bei diesem Beispiel fehlt der alten politischen Partei CDU das Instrumentarium, nicht einfach Kritiker zu diffamieren, abzustrafen und einzuschüchtern sondern moderne Kommunikationsformen zu nutzen und auf ein eigenes Modell der Web-Kommunikation zu setzen. Damit ist kein technischer Vorgang gemeint sondern ein gesamt-gesellschaftlich-kommunikativer – und damit ein zutiefst sozialer und letztlich auch politischer. Es handelt sich um einen komplexen, umfassenden Vorgang, den man aber auch ganz einfach zusammenfassen beschreiben kann: Rezos Video hätte in der YouTube-Logik sofort ein Reaktionsvideo nach sich ziehen müssen, das hätte jeder Zuschauer auf YouTube erwartet. Genau das wäre ein zeitgemäßer, medial ausgetragener Dialog gewesen. Aber große Parteien sind Machtapparate, die sich schwer damit tun, wenn ihre Macht gefährdet ist. Das Web, das sieht man an diesem Beispiel wieder, verändert auch politische Spielregeln – aber ohne dass es die CDU seit der Jahrtausendwende bemerkt hätte.