Buß- und BettagVielleicht stellt man im Hinblick auf Verschwörungstheorien und Verschwörungsmythen die falschen Fragen. Denn es geht meist um die Frage, warum man an so etwas Verrücktes wie die Erde als flache Scheibe überhaupt glauben kann. Aber eigentlich müsste die Frage anders lauten.

Nämlich andersherum gestellt. Anstatt dem Verschwörungsgläubigen ein Motiv für seine Ansicht zu unterstellen (was andererseits bei den politischen Initiatoren dieser Chaos-Behauptungen schon der Fall ist) oder mit Unverständnis zu reagieren, könnte man die Perspektive wechseln.

Mutmaßen, annehmen, glauben

Stellen wir uns vor, dass jeder Mensch das Bedürfnis hat, etwas zu wissen und etwas zu glauben. Das sind zwei unterschiedliche Zustände. Etwas zu wissen, bedeutet einen Zustand gesicherter Erkenntnis. Etwa indem man etwas persönlich ermittelt oder erforscht hat oder indem man bezüglich eines Themas recherchiert hat. Man kommt dann zum Beispiel zu folgender Erkenntnis: „Ich weiß, dass dieser 8er-Dübel optimal für den Baustoff dieser Wand ist.“ Man muss also nicht vermuten oder glauben, dass der Dübel, für den man ein Loch in die Wand bohrt, in den man einen passenden Haken dreht, später den Küchenschrank halten wird, weil man mit höchster Wahrscheinlichkeit weiß, dass er den Küchenschrank halten wird. Dabei sind Wissen und die Wahrheitsermittlung bzw. das Ergebnis der Wahrheitssuche keine Absolutismen sondern Annäherungsprozesse. Doch eine höchste Wahrscheinlichkeit ist für die Bewältigung von Alltagsaufgaben meist hinreichend.

Glaubens-Verdichtung

Anders verhält es sich mit etwas, das man glaubt. Man hat sich also nicht informiert, welcher Dübel für welche Wandart – Stein oder Rigips – am besten ist und probiert es einfach aus, obwohl man es nicht weiß, ob er tatsächlich geeignet ist und ob er das Gewicht des Schrankes halten wird. Man glaubt aber zu diesem Zeitpunkt, dass es klappen wird. So betrachtet kann man „wissen“ und „glauben“ als zwei Zustände ansehen, die Gewissheit unterschiedlich verdichten.

Wissen und Glauben

Doch ist das oben genannte Beispiel die einfachste und deutlichste Art, den Unterschied zwischen Wissen und Glauben zu verdeutlichen. Denn tatsächlich gibt es vieles, das man wissen kann aber ungleich mehr, was man nicht wissen kann und deshalb glauben muss. Begriffe wie „Intuition“, „Fühlen“ oder „Bauchgefühl“ beziehen ihre Relevanz aus dem Umstand, dass in Momenten zu entscheiden ist, ohne dass Wissen vorhanden wäre. Sich etwa auf einen Menschen zu verlassen, kann auf Erfahrungen beruhen und wäre damit auch wissensbasiert, dennoch ist viel von einer Augenblicks-Entscheidung, jemandem zu vertrauen, eine Sache des Glaubens.

Gibt es ein Glaubens-Bedürfnis?

Man könnte aus diesen Überlegungen ableiten, der der Mensch nicht die Wahl hat zu glauben oder nicht zu glauben. Er ist so konstruiert, dass er sich einerseits Wissen aneignet und dort, wo es nicht vorhanden ist, annimmt, vermutet und glaubt. Wissen und Glauben schließen sich nicht aus. Glaube an etwas kann zu Wissen werden oder im Prozess der Wissensaneignung kann immer wieder der angereicherte Glaube, der zur Hypothese oder Theorie wird, ein Abschnitt auf dem Weg zur Wissenserlangung sein. Sogar kann vertieftes Wissen, dass seine Grenzen sieht wiederum in Glauben münden. So weiß man, dass der eine oder andere Physiker, der die Welt im Großen oder Kleinen bis an die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit erforscht, demütig wird angesichts dessen, was er dort sieht und dann zum Gläubigen wird.

Transzendenz-Wesen „Mensch“

Der transzendente Bereich der Religion oder allgemein des Lebensgefühls und der Verortung der eigenen Person in einem großen Ganzen ist dabei naturgemäß keine Wissensangelegenheit. Denn es gibt Übergeordnetes, dass man nicht wissen, sondern nur glauben kann. Das kann sich auf den Sinn des Lebens beziehen, auf die Beschaffenheit der Realität, des Universums oder auf etwas sehr Individuelles – münden kann all das in einen religiösen Glauben.

Glaubens-Arten

Der Perspektivwechsel im Hinblick auf Verschwörungsmythen besteht also darin, dass jeder Mensch fast zwangsläufig auch glauben muss. Er hat die Fähigkeit und das Bedürfnis danach. Man kann dieses Glauben in zwei Bereiche aufteilen:

  • Das alltägliche Glauben, quasi als Hilfskonstrukt als Alternative zum Nichtwissen, um handlungsfähig zu bleiben, und
  • der transzendente Glaube, der große Lebensfragen berührt und eine spirituelle Ausrichtung hat.

Die säkularisierte Gesellschaft

Was geschieht nun in einer Wissens- und Informationsgesellschaft, die dem Bedürfnis nach dieser zweiten Art von Glauben keine Rechnung trägt? In einer säkularisierten Gesellschaft, in der der Bezug zu Kirche und Religion einer Hinwendung zum Greifbaren und Materiellen gewichen ist, entsteht eine Glaubenslücke, obwohl die Notwendigkeit, an etwas zu glauben, weiterhin vorhanden ist. Die Abkehr von der Kirche muss nicht bedeuten, dass es nicht transzendent ausgerichtete Glaubensrichtungen gibt, die Menschen individuell für sich leben. Andererseits scheint die soziale Organisation in Glaubensgemeinschaften ein wichtiges gesellschaftliches Element zu sein, das Gläubigen in einem sozialen Gleichklang eine Selbstverortung bringt.

Glaubens-Beliebigkeit

Nimmt man aber nun an, dass ein transzendentes Glaubens-Vakuum nicht verhindert, dass dennoch geglaubt wird – nämlich an irgendetwas – dann erscheint der Glaube an Verschwörungsmythen plötzlich weniger exotisch. Denn dann müssen nur zwei Faktoren zusammenkommen:

  • Eine Persönlichkeit, mit der man sich identifiziert, wie etwa mit KenFM in Deutschland, oder Donald Trump in Amerika (oder mit einer Institution oder Webseite, der man vertraut, wie der Fake-News- und Verschwörungsplattform „RT-Deutschland“ = „Russia Today Deutschland“ oder aber „The Daily Wire“ oder „Breitbart“ in den USA).
  • Ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat oder dem Bundesland, in dem man lebt. Viele Aktivitäten wie die haltlose Überwachung aller Bundesbürger, Masken-Deals von CDU-CSU-Politikern während der COVID-19-Pandemie oder die zunehmende Selbstbereicherung von Bundestagsabgeordneten zerstören das Vertrauen in die Mechanismen der Demokratie und begünstigen Paranoia.

Fazit: Die Glaubens-Falle

Kommen diese Faktoren zusammen – eine Gesellschaft, die verlernt hat in sozialen Zusammenhängen an etwas zu glauben, Vorbilder, die ihre Macht populistisch missbrauchen und korrupte Politiker – ist der Glaube an alles Mögliche, und mag es noch so abstrus sein, plötzlich nicht mehr weit und erscheint sogar naheliegend – sofern man der These glaubt, dass man glauben muss.