Klierkopf

Wie eine Seuche war 2009 die populistische Tea-Party-Bewegung über Amerika gekommen. Unterstützt vom Sender Fox-TV, bekam sie eine große mediale Aufmerksamkeit. Dabei konnte ein Europäer, der der Tea Party wahrnahm, angesichts der Unwissenheit und der schrägen Wahrnehmungen ihrer Mitglieder nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Deren Ansichten über Barack Obama zum Beispiel erschienen bizarr. Mit Pegida hat Deutschland nun zeitversetzt seine Mini-Tea-Party bekommen.

Laut einer Untersuchung ist für die Mehrheit der 400 Befragten von Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) nicht die angebliche Islamisierung Deutschlands das wichtigste Thema. Vorher rangieren die Themen Politikverdrossenheit, die Kritik an den Medien und auf Platz drei folgen Vorbehalte gegenüber Zugewanderten und Asylbewerbern mit Schwerpunkt auf Muslimen. Welche Ursachen verschränken sich nun zum Entstehen einer Bewegung mit überproportionaler Medienaufmerksamkeit, die für das Gegenteil eines weltoffenen Deutschland steht?

1. Parteien-Inzucht: Die ökonomisch perspektivlose Demokratie

Es hat angesichts eines lang anhaltenden Wohlstandes und der relativen Sicherheit in der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland zunehmend der Grund gefehlt, warum die Demokratie wichtig sein könnte. Das Bewusstsein für demokratische Errungenschaften ist abhandengekommen. Kaum ein Politiker behält den Überblick über das große Ganze. Zudem hat sich die Ökonomie weiter polarisiert, das heißt immer weniger in Deutschland verfügen über den Großteil der finanziellen Mittel und bei immer mehr bilden sich ökonomische Zukunftsängste heraus. Kein Wunder, dass auf den Pegida-Demonstrationen viele Mitglieder der Mittelschicht mitmarschierten, jener Klientel, die langsam ausstirbt zwischen Arm und Reich. Zu allem Überfluss sind die großen alten Parteien nicht mehr verlässliche Statthalter klarer Interessen, sondern zu Machtzentralen mit Inzucht-Charakter verkommen.

2. Undurchschaubare Indoktrinationen und Medien-Manipulationen

Verschwörungstheoretiker, permanent lügende Politiker und mediale Stromlinienförmigkeiten, die ebensolche aalglatten Charaktere in der Politik geschaffen haben, gehen Hand in Hand. Die Echtzeitigkeit der Medien und die Deckungsgleichheit imaginierter negativer Weltbilder mit realen Vorkommnissen wie der größenwahnsinnigen Überwachung der Welt durch ein Informationskartell (NSA in den USA/GCHQ = Government Communications Headquarters in England) machen es immer schwieriger, Gegner von Verbündeten zu unterscheiden. Demokratische Tugenden werden damit pervertiert, gut und böse nivelliert. Geheimgerichte in den USA und Guantanamo als Hebel gegen die Gerichtsbarkeit einerseits, schweigende Politiker in Deutschland andererseits. Was ist noch richtig, wenn das Unrecht geduldet wird? Kann man Politik und Medien noch trauen? Bleiben solche Fragen zu lange offen, ergibt sich ein neuer Spielraum für Rechtsradikale. Aber nicht nur das, auch für Paranoiker, Verschwörungstheoretiker und allgemein für Dummheit – weil es irgendwann nicht mehr wichtig ist, für gesellschaftliche Übereinkünfte etwas zu tun. Keine Wahrheit oder eine abstruse Wahrheit ist dann auch eine Wahrheit.

3. Rechtsradikale mit Nebelkerzen-Selbstdarstellung

Rechtsradikale fressen Kreide, indem sie im Mantel angeblich demokratischer Ziele auf Wählerfang gehen. Rechte und Rechtsradikale sammeln sich in der AfD, die sich mit ihrer Europakritik ein Thema gesucht hat, das vielen auf der Seele brennt. Am Freihandelsabkommen, das auf Europaebene geheim verhandelt wird, sieht man, dass es kaum noch einen Statthalter demokratischer Werte gibt. Man weiß außerdem: der Wähler tendiert in Krisenzeiten mehr zu den politischen Extremen. Und sofern es keine Krise gibt, kann man die Zustände politisch-rhetorisch so darstellen, dass alles zu spät ist – ob nun ein Europa oder ein Euro, die zusammenbrechen oder ein „Vaterland“, das überfremdet wird. Ängstliche Wähler neigen zum Irrationalen. Bei dieser Erkenntnis haben sich mit langer Tradition FDP und CDU/CSU demagogisch vor allem in Wahlkampfzeiten betätigt, um Wählerstimmen zu bekommen. Wählerstimme gegen Angst lautet die simple Gleichung. Mit Ausländerfeindlichkeit in den letzten Tagen vor Wahlende fischen konservative Parteien immer mal gerne im rechten Wählerstimmenreservoir.

4. Demokratie lernen: Ostdeutschland ist anders

Ostdeutschland hat Jahrzehnte lang unter einer Parteidiktatur gelebt. Ein Volk von Denunzianten, Sozialüberwachern und institutionellen Überwachern hatte einen monströsen Paranoia-Apparat geschaffen. Kein Wunder, dass Ostdeutschland die Demokratie und Werte wie Toleranz wieder neu erlernen muss. Ohne den unseligen Geist von Angst und Ungewissheit im Spannungsfeld der alten Sicherheiten unter dem SED-Regime und der neuen Unsicherheiten in der demokratischen Freiheit wäre Pegida kaum denkbar, ist es doch im Wesentlichen ein ostdeutsches Phänomen. Der Zusammenbruch des SED-Regimes und der Wirtschaftsstruktur hatten zum Verlust von Heimat geführt, hat Ostdeutschland die spitzen Zähne des Profiteur-Kapitalismus gezeigt.

5. Überdosis Mensch: Das Internet als verbaler Mülleimer

Die neuen Möglichkeiten digitaler Vernetzung und digitaler Vernetzungskultur in sozialen Medien, Foren und in Kommentarblöcken unter Artikeln haben dazu geführt, dass jeder allgemein zugänglich für alle Leser und Zuschauer seine Gedanken loswerden kann. Das hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen, die die „schweigende Mehrheit“ waren, nun den emotionsgeladenen realen Stammtisch aus der Kneipe ins virtuelle Web getragen haben. Das Web ist so niveaulos, wie es die Menschheit vorher schon war. Doch nun kann es jeder lesen, sehen und hören. Eine Zukunftsvision ist wahr geworden – das Web als Maschine, die die Gedanken, die Sehnsüchte, die Wut und Gefühle der Menschheit dokumentiert. Das ist für einen Menschen mit Ansprüchen kaum auszuhalten. Es ist eine Überdosis Mensch, ein Niveaulosigkeits-Overkill. Die Meinungsführerschaft liegt damit nicht mehr in den Händen einer elitären Minderheit, wodurch sich Wichtigkeiten verschieben. Das Know-how jedenfalls, mit der neuen digitalen Freiheit umzugehen, müssen sich viele erst noch aneignen.

6. Weniger Bildung, mehr politischer Extremismus

Vorbei die Zeiten, in denen ein Arbeiterkind bzw. ein Kind, das aus finanziell prekärem Umfeld stammte, ökonomisch einigermaßen abgesichert studieren konnte. Selbst bereits weiterführende Schulen schreiben heute vor, was an Schulmaterialien man zu kaufen hat, von welchem Hersteller und zu welchem Preis. Bildung ist für sozial Schwache wieder unerschwinglich geworden. Mangelnde Bildung führt aber tendenziell zu politischem (Rechts-)Extremismus. Die deutsche Wirklichkeit ist enger und verschlossener geworden, seit die CDU/CSU wieder Bildung als Exklusivrecht an hohe Einkommen gekoppelt hat.

7. SPD/CDU: Hochburg von Schwerfälligkeit und Langeweile

Genauso die politische Landschaft: Die große Koalition mag gut gewesen sein, um die Weltwirtschaftskrise zu meistern. Aber nun ertränkt sie das Land in politischer Langeweile. SPD und CDU haben sich weit angenähert. Die Demokratie wird aufgeweicht und zermahlen zwischen europäischen und amerikanischen Kapitalinteressen. Die SPD stellt gleich Gerichtsbarkeit und Verbraucherinteressen im Zuge des Freihandelsabkommens zur Disposition und liefert damit Deutschlands Selbstbestimmung aus. Naiv wäre es, nicht anzunehmen, es gäbe da anderweitige Einflussnahmen an den demokratischen Gremien vorbei. Es riecht nach Korruption. Das spürt auch der Wähler und so wundert es nicht, dass AfDs und Pegidas entstehen. Man spürt, dass nur noch die kleinen Parteien etwas bewegen können, wenn den großen die Werte der Demokratie nicht mehr wichtig sind. Man hat bei einem kleinen Klientel-Politik-Vorkommniss wie dem Leistungsschutzrecht gesehen, dass verlagsnahe Lobbyisten der CDU die Gesetze diktieren und die SPD, obwohl sie inhaltlich dagegen war, mitgemacht hat und dafür stimmt. Bei der unrechtmässigen flächendeckenden Überwachung unbescholtener deutscher Bürger, die zusammen mit der restlichen Weltbevölkerung von der NSA unter Generalverdacht gestellt werden, geht es weiter – auch hier wiegelt die Politik ab und schützt den Bürger nicht. Eine Diskussion soll unterbunden werden. Schon bevor diskutiert wurde, ließ die CDU in Sachen NSA-Überwachung verlauten, das Thema sei erledigt, alles sei in bester Ordnung. Dass das immer mehr Bürger vor den Kopf stößt, scheint Methode zu haben. Dass sich immer mehr Wähler angesichts dieses Irrwitzes politisch radikale Alternativen suchen, liegt auf der Hand. Pegida ist keine Krankheit, sondern ein Symptom für die Schwächen der Demokratie und die Selbstgefälligkeit der großen Koalition. (Und es scheint sich schneller aufzulösen, als gedacht.)