1endoplast_traum_wasselowski

Du hast mich gestern gefragt, was wohl das eigentliche Leben ist: Das, welches wir für die Realität halten, oder das, welches wir des Nachts erträumen? Du hättest darüber nachgedacht, was der Wahrheit näher käme. Ich hatte Dich gefragt, warum das für Dich überhaupt wichtig ist. Du hast geantwortet, dass es schwierig ist zu leben, wenn man nicht weiß, woran man ist, woran man sich orientieren soll. Dann habe ich leichtfertig dahingesagt, egal ob Tag oder Nacht, ob Wachzustand oder Traum, das ganze Leben sei geträumt.

Ich habe Dir erzählt, dass ich seit jeher immer den gleichen Traum geträumt habe, immer, und immer wieder: Dass ich im Bett liege und schlafe, dass ich dabei auf dem Rücken liege und dabei natürlich die Augen geschlossen habe. Doch durch die geschlossenen Lider kann ich trotzdem sehen und beobachten. Die Menschen um mich herum schleichen durch das Zimmer, an meinem Bett vorbei, sie sind teils wie ganz normale Menschen, teils wie huschende Schatten, teils wie flüchtige Schemen. Ich sehe all dies. Aber sie ahnen es nicht, dass ich sehen kann, weil sie sehen, dass meine Augen geschlossen sind. Ich kann durch die Tür-Öffnung ins Ankleide-Zimmer gucken. Es ist nicht viel zu sehen. Dunkelheit – Pflanzen, Holzdielen und eine Stuhl-Lehne sind nur zu ahnen. Mitten im Raum bildet sich etwas Unbestimmtes. Es scheint violett, wird langsam heller und verändert sich fortwährend. Etwas Rundliches. Dann verändert es sich weiter in etwas Langgestrecktes. Aus der wenig mehr als dem Nichts scheint irgendetwas zu werden:

2endoplast_alptraum_wasselowski

Es könnte ein Wesen sein. Was für eins? Eine seltsam lange Nase. Ein Auge deutet sich an. Wer bist Du? Was willst Du von mir?

3endoplast_monster_wasselowski

Jetzt sieht es aus wie ein Vogelmann. Warum ist er hier? Ich bekomme Angst, weil er jetzt konkreter wird. Immer wenn sich im Traum etwas aus der Unbestimmtheit, aus der Unschärfe, dem Nebenbei der Phantasie-Welt herausschält, immer deutlicher zu sehen ist, wird es auch bedrohlicher – obwohl vielleicht gar kein Grund dafür zu bestehen scheint.

4endoplast_traumbild_wasselowski

Jetzt ist es ganz klar: So etwas wie Federn auf dem Kopf des Wesens deuten sich an. Keine lange Nase, eher ein gebogener Schnabel. Was willst Du mir sagen? Willst Du mich angreifen?

5endoplast_trugbild_wasselowski

Dann verändert sich alles. Das Bild flimmert, oszilliert. Wie eine Projektion wirkt es jetzt. Es verharrt frei schwebend mitten im Raum, deutlich zu sehen, es wackelt leicht, es ist nicht real. Ein Fernsehbild? Die Angst schwindet.

6endoplast_albtraum_wasselowski

Die typyschen Verzerrungen. Bin ich beim laufenden Fernseher eingeschlafen? Nein. Es ist ein Traum. Der Traum von einer Videoprojektion. Wie unwirklich, wie fern von alledem, das mir etwas sagen könnte. Das Bild verändert sich nicht mehr. Inzwischen ist es das für mich: Keine fremde Figur, vor der ich mich fürchten müßte, sondern ein Bild von einer solchen Figur, eine Projektion. Eine Projektion stellt keinerlei Gefahr dar. Aber warum träume ich davon? Lebe ich nicht mehr in der realen Welt? Muß meine innere Steuerzentrale jetzt eine Projektion aufrufen, um mich zu beruhigen?

7endoplast_alpdruck_wasselowski

Dass da etwas zu schweben scheint, dass es eine Projektion sein könnte, dass dies eine Bedeutung haben könnte − all das gerät in den Hintergrund, ist so ähnlich, wie wenn man etwas nur noch aus den Augenwinkeln sehen könnte. Meine Konzentration liegt seit ein paar Minuten woanders. Ich konzentriere mich im Traum offenbar darauf, was gleich kommen wird. Ein Gefühl wie Spannung, Traum-Spannung. Kennst Du das, wenn Du Dich gar nicht mehr auf das Hier und Jetzt konzentrieren kannst, weil Du auf etwas wartest? Dann passiert es. Das Wesen hat sich geändert. Es besteht jetzt aus Punkten. Das Wesen, von dem ich annehmen konnte, es sei lebendig, hat sich in etwas Zweidimensionales verwandelt. Das Wesen ist zum Bild geworden. Es besteht aus groben Punkten. Es ist reproduziert, vielleicht gedruckt. Tatsächlich, es könnte ein Siebdruck sein, eine Serigrafie. Also so etwas wie ein Kunstwerk. Es geht keine Gefahr mehr von ihm aus. Im Traum ist eine Phase abgeschlossen. Ich merke, dass ich durch die geschlossenen Augen nicht mehr sehen kann. Es ist jetzt, wie es eigentlich sein sollte: Ich schlafe, ich habe die Augen zu, ich sehe nichts mehr, was außerhalb sein könnte. Ich höre auf zu träumen. Ich schlafe im Schlaf nun wirklich ein.

8endoplast_vogel_wasselowski

Ich träume dann noch weiter. Von anderen Dingen. Wovon genau, daran erinnere ich mich nicht mehr. Danach kommt eine andere Phase, in der ich davon träume, dass ich wach geworden bin und aufstehe. Ich versuche ins Badezimmer zu gehen, um den Tag zu beginnen. Ich bin ermattet, gehe gebückt. Es ist, als stünde ich kurz vor einer Ohnmacht. Ich taumele den Flur entlang, schaffe es bis zur Badezimmer-Tür. Ich muß mich am Tür-Drücker festhalten. Dann gehe ich langsam hinein. Vor mir dreht sich alles, weiße und schwarze runde Kreise wechseln sich ab. Mit beiden Armen stütze ich mich auf dem Waschbecken ab. Ich blicke langsam hoch, in den Spiegel. Die Spiegeloberfläche ist matt, so absolut matt. Ich kann es nicht fassen. Was gibt es Schlimmeres, als sich selbst sehen zu wollen und da ist nichts? Es wirkt wie graues Plastik, aber die Fläche ist nicht homogen, es sind offenbar Flecken darin, alles dreht sich, ich starre auf die Fläche, die sich langsam mahlend um ein Zentrum dreht. Die dunklen Bereiche werden dunkler, die hellen heller. Was ich jetzt alles sehe, kann ich nicht in Worte fassen. Es ist, als sähe ich in Sekunden-Bruchteilen alle Bilder, die ich jemals gesehen habe. Nur an eines kann ich mich jetzt erinnern. Es war ein großer Vogel, der auf etwas saß. Er zerrte mit seinem kräftigen Schnabel an etwas. Es war ein Körper. Ein toter Körper, mein toter Körper. Er hatte gerade meinen Arm im Schnabel, wollte ihn vom Körper trennen. Ich spüre, wie der Vogel, der sich vorher in ein harmloses Bild verwandelt hatte, nun ganz real an mir reisst und zieht. Ich spüre, wie mein Arm hochgerissen wird. Du sagst: „Aufwachen“ und ziehst mich am Arm. Also gibt es mich noch.