Obspitzdachlos

Sie zog sich schüchtern und mit kargen Bewegungen aus, ließ ihren zu großen Schlafanzug an sich hinabgleiten. Sie sah ihn an. „Willst…“ – Das „…Du?“ sprach sie nicht aus. Er schüttelte den Kopf, hob ihre Kleidung auf und hielt sie so vor ihren Körper, dass ihre Scham bedeckt war. Er sah sie ernst an.

Sie zog sich an. Sie dachte an gestern. Die U-Bahn. Es war das Ende ihres Weges gewesen. Die Wohnung war weg, kein Geld, kein Fahrschein. Sie war nachts einfach eingestiegen, weil sie nicht wusste, wohin. Sie hatte sich zufällig neben ihn gesetzt. Sie hätte jeden angesprochen, um einen Schlafplatz für die Nacht zu haben.

Er war vom Weintrinken mit einer Freundin gekommen, aber er merkte nichts, er wurde nicht schnell betrunken. Er war in die U-Bahn gestiegen. Eine schlanke Frau mit langen dunklen Haaren im Pulover aber ohne Jacke – und das bei dem Wetter – hatte sich neben ihn gesetzt. Sie hatte ihn angesehen und ihn gefragt, ob sie mit zu ihm könne. Er hatte „nein“ gesagt.

Wenig später waren sie vor seiner Wohnungstür. Sie hatten kein Wort miteinander gewechselt. Es war die letzte Nacht in einem normalen Leben kurz vor der Obdachlosigkeit. Das spürte er. Er hatte ihr das Bett gelassen, war ins Arbeitszimmer gegangen und hatte durchgearbeitet.

Jetzt stand sie vor ihm, wollte bezahlen, vielleicht wollte sie auch länger bleiben. Als sie sich angezogen hatte, frühstückten sie. Er suchte im Internet, rief bei der Bahnhofsmission an. Dann erklärte er ihr, wie sie zum Obdachlosenasyl käme. Sie weinte nicht einmal. Er gab ihr etwas Geld und einen Beutel mit Lebensmitteln. Er hatte ihr ein Besteck dazulegen wollen, aber er ließ es aus einem unbestimmten Gefühl heraus sein.

Später saß er allein in der Wohnung, betrachtete die Wände. Sie kamen ihm dünn und fragil vor, wie Transparentpapier. Zwischen der Wärme hier drinnen und der Kälte dort draussen waren es nur ein paar Zentimeter.