Maschendrahtbrief

Seit ich in dieser Stadt lebe, sitzt der Häkelmann in der Fußgängerzone. Noch nie bin ich dort entlang gelaufen und er war nicht da. Er ist meine tägliche Verlässlichkeit, mein Rendez-vous, mein zur Gewohnheit gewordenes Date.

Schon von weitem halten meine Augen nach ihm Ausschau. Er sitzt nicht etwa am Rand unter dem Vordach irgendeines Kaufhauses. Er sitzt in der Mitte der mit Kopfsteinpflaster bedeckten Straße. Eigentlich sitzt er dort nicht, er thront. Eine alte Decke hat er unter sich und um ihn herum sind riesige Berge alter Wolle. Reste, die Passanten ihm schenken, jedenfalls habe ich das einmal beobachtet. Still sitzt er da, im Schneidersitz, immer im Schneidersitz. Er scheint in seiner Tätigkeit aufzugehen. Nie hebt er den Kopf, auch mich hat er in all den Jahren wohl nie wahrgenommen.

Letzte Woche nun hat er mich das erste mal angesehen. Es war nicht so, dass er nur zufällig sein Gesicht in meine Richtung gewendet hätte, als ich an ihm vorbeigehen wollte. Vielmehr warf er seinen Blick in mich ein, ließ ihn umherschweifen und sah sich um. Abends auf dem Nachhauseweg, ich drängte mich ganz an den Rand, hob er abermals den Kopf. Mein Bauch krampfte sich sofort zusammen. Am nächsten Tag brachte ich ihm eine Tüte alter Wolle mit, stellte den Beutel wortlos vor ihn hin und ging rasch weiter. Damit hatte ich meiner Schuldigkeit genüge getan. Er hatte nicht aufgesehen. Er hatte einfach nur gehäkelt.

Abends ging ich zurück, ich war müde. Die Fußgängerzone war menschenleer. Nur der Häkelmann saß da. Vor ihm waren unzählige kleine gehäkelte Püppchen aufgereiht, deren Einzelteile er erst gehäkelt, dann zusammengenäht und deren Körper er anschließend ausgestopft hatte. Zum Schluß hatte er ihnen noch Gesichter aufgestickt, mit denen sie mir entgegenstarrten. Ihre Blicke verfingen sich in mir, fesselten und hielten mich. Ich schrie, brachte aber keinen Ton heraus, sah mich panisch um. Im Schaufenster gegenüber standen menschengroße Häkelpuppen, auch sie glotzen mich an. Von der Dachterasse des neuen Ärztehauses beugten sich Häkelpuppen, drängelten sich am Geländer, um einen Blick auf mich zu erhaschen. Vom Marktplatz und vom Bahnhof her marschierte eine Truppe uniformierter Häkelsoldaten auf mich zu. Schon konnte ich ihren Gleichschritt hören.

Mein Blick fiel auf die Hände des Mannes. Er hatte gerade die Einzelteile eines neuen Püppchens fertig gestellt. Abrupt richtete er seine Augen auf mich. Dann begann er die eben gehäkelten Teile aufzuziehen, ganz langsam. Und mit jeder aufgetrennten Masche wurde ich weniger.