Anthony Braxton Foto: Kurt Rade

Ein frischer Wind weht durch das Moers Festival. Nachdem Reiner Michalke letztes Jahr als künstlerischer Leiter zurückgetreten ist, hatten der Neue, Tim Isfort, und sein Team gerade mal ein halbes Jahr Zeit um ihr Festival auf die Beine zu stellen.

Tim Isfort ist kein Unbekannter. Er ist ein hervorragender Musiker, Bassist, Komponist und mit seiner langjährigen Myanmar-Kooperation ein Weltenzusammenführer. Er kuratierte die Duisburger Traumzeit zu eben jener Zeit, als sie eines der aufgeschlossensten, vielseitigsten und aufregendsten Festivals Deutschlands war. Isfort war selbst langjähriger Fan des Moers Festivals, als es noch das New Jazz Festival Burkhard Hennens war, so dass es nicht verwundert, dass mit ihm Neuerung und Tradition Hand in Hand gehen. Isfort ist der logische Dritte in den 45 Jahren Festivalgeschichte und sein Nachfolger muss, für den Fall, dass die Moerser Politik auch Isfort verschleisst, erst noch erfunden werden.

Die Neuen haben mit Enthusiasmus und Engagement in kurzer Zeit eine Vitalität in die Festivalidee gebracht, die erstmals seitdem das Festival in der neuen Festivalhalle stattfindet, einiges von dem früheren Charme heraufbeschwören und fortführen kann.

Es gab nun 60 Programmpunkte ausserhalb der Festivalhalle, an x-verschiedenen Standorten in der ganzen Stadt. Einzelhandelsgeschäfte waren genauso einbezogen wie das Rathaus, die St. Josef-Kirche oder das Bettenkamper Meer. Festivalbesucher und Einwohner waren gleichermassen zum Schlendern aufgefordert und nahmen dieses Angebot, sich zu vermischen, auch wahr.

Ein Kleinlaster fuhr ein Piano samt Pianisten auf der offenen Pritsche quer durch die Stadt. Der Fetzen Klaviermusik, der an einem vorbeigeflog, klang schön, aber man hätte hinterherlaufen müssen, um zu wissen, ob das auch durchgängig so war.

Im Zentrum des Festivaldorfs, dem traditionell den Verkaufsständen gehörigen Areal vor dem Festivalgelände, fand sich eine Bühne für die etwas jüngere Musik und damit auch die etwas jüngeren Musiker. Auch diese Konzerte waren frei zugänglich und sorgten für eine angenehme Belebung des Betriebs.

Als beinlahmer alter Knacker könnte ich höchstens kritisieren, dass die Moerser Taxigesellschaft die Chance, mich von hier nach da zu transportieren, indem sie regelmässig Taxen am Festivalgelände vorhält, aufgrund irgendeiner internen Fehleinschätzung nicht wahrgenommen hat.

Rubatong Foto: Kurt Rade

Ach ja, wenn wir schon von Enthusiasmus reden, dürfen wir die vielen Ehrenamtler nicht vergessen, die die aufwändige Organisation überhaupt erst möglich machen. Herzlichen Dank an dieser Stelle an alle, die sich so liebevoll eingesetzt haben.

Selbstredend wurde auch das musikalische Kerngeschäft des Festivals sanft modernisiert. Es gab nun mehr Sessions, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, an denen sich Festivalmusiker zu neuen Konstellationen zusammen fanden. Ein neues Format namens Discussions, kuratiert von Thorsten Tröpp, das, an verschiedenen Spielorten ausgetragen, sich dadurch auszeichnete, das jedes Einzelne irgendwie anders war, ausserhalb der Reihe sozusagen. Am bemerkenswertesten vielleicht die „Discussions: About Everything!“, mit der die vier Vocalisten Jaap Blonk, Kim José Bode, Catherine Jauinaux und David Moss eine Podiumsdiskussion parodierten und dadaisierten, die deshalb weh tat, weil sie so nah der erfahrbaren Wirklichkeit war.

Swans Foto: Kurt Rade

Mit Swans aus den USA erlaubte sich das Festival eine Lautstärke, wie man sie seit 20 Jahren auf Festivals nicht mehr zu hören kriegte. Minderjährige wurden des Saales verwiesen, alle anderen mit Gehörschutz ausgestattet. Ein Angebot, das man vernünftigerweise hätte annehmen sollte, wenn es auch genug „Harte“ gab, die es ablehnten, das Angebot, den Schall körperlich zu spüren, durch irgendeinen Gehörschutz zu minimieren. Swan spielen hauptsächlich getragen düster auf, gelegentlich aufrockend. Im Programmheft werden sie beschreiben als „seelisch beflügend und körperlich zerstörend“ und dem ist nichts hinzuzufügen.

Anthony Braxton beehrte das Festival nach vielen Jahren erneut. Er ist die Legende dieses Jahr, mit dem nicht nur das Moers Festival, seit es noch New Jazz war, eng verknüpft ist, sondern diese Art von Musik überhaupt. Braxton komponiert vertrackte Stücke, die er gerne in ungewöhnlichen, bisweilen herausfordernden Besetzungen aufführt, hier zusammen mit Tuba, weiteren Bläsern, einem Cello und zwei (!) Harfen. Kennzeichen seiner Kompositionen war schon immer, dass sie sich paradoxerweise insgesamt nach Free Jazz anhörten, auch jenseits der improvisierten Teile.

Frisch anders klangen Rubatong aus den Niederlanden mit einer Mischung aus Blues, der niemals abgehangen klang, vitalem Rock und etwas, das man kaum als Jazz bezeichnen möchte. Han Buhrs sang in Englisch, Holländisch, Französisch oder Phantasie-Deutsch. Wunderbar!

Das Klaviertrio The Bad Plus fesselten das Publikum mit Adaptionen bekannter Stücke, die man nicht als Cover-Versionen bezeichnen kann. Sie leuchteten bekannte Melodien mit neuer Magie aus.

Radio Kinshasa Foto: Kurt Rade

Im letzen Konzert am Sonntag trafen vier Musiker aus dem Kongo, die traditionelle oder selbstgebaute Instrumente spielten auf FM Einheit (früher Ton Steine Scherben), den russischen Saxophonisten und Pianisten Pavel Arakelian und den Trompeter Markus Türk. FM Einheit, dessen ganze Physiognomie herausschreit „Ich bin Avantgarde-Musiker“, trommelte auf riesigen, von der Decke hängenden Stahlfedern, die er auch mal mit der Bohrmaschine bearbeitete, oder mit Kieselsteinen auf Stahlplatte. Türk verfremdete den Klang seiner Trompete. Die Kongolesen sangen ihr Repertoire. Das ganze fügte sich verblüffend harmonisch zu einem Ganzen zusammen, das ich es kaum fassen konnte. Zwischendurch marschierten die überlebensgroßen Puppen der australischen Snuff Puppets mitsamt Blasorchester zu einem karnevalsähnlichen Ereignis über die Bühne. Der kongolesische Sänger bewegte sich dazu mit schlafwandlerischer Selbstsicherheit auf hohen Stelzen inmitten des Durcheinanders. Das hat Spaß gemacht.

Sichtbar alternativ: FM Einheit Foto: Kurt Rade

Wie immer reicht der Platz nicht aus, um jede bemerkenswerte Band zu erwähnen und deshalb auch diesmal der Rat an alle, doch beim nächsten Mal selbst dabei zu sein. „Das Jazz“, das jetzt auch wieder von seiner Atmosphäre lebt, muss man erleben. Ich freue mich jetzt schon auf nächstes Jahr.

Alle Fotos: Kurt Rade, © 2017